Shale Wagman macht beim Bayerischen Staatsballett auf sich aufmerksam.

Shale Wagman in »Cinderella«

Federleichtes Kraftzentrum

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Shale Wagman in Christopher Wheeldons »Cinderella« | © Serghei Gherciu

Im Frühjahr 2021 war da ein neues Gesicht im Bayerischen Staatsballett – unerwartet. Denn in der Regel erfolgen Neuengagements zu Saisonbeginn im Herbst. Shale Wagman, so las man im Programmheft. Und unerwartet, eigentlich ungewöhnlich, dass dieser Neuzugang, obgleich ja nur Gruppen-Mitglied, sofort ins Auge fiel: Wagman hat eine Wachheit in seiner Bewegung, eine bis ins Parkett fühlbare Lust, den Raum zu erstürmen. Was immer er tanzt, ihm dabei vielleicht gar nicht mal bewusst, wirkt wie ein Appell an den Zuschauer: »Schau hin, fühle mit.« Zur Spielzeit 2022/23 wurde Wagman, herübergeweht vom kanadischen Toronto, zum Solisten befördert.

Rückblick: Seine Eltern schicken ihn zwecks sportlichem Ausgleich nach dem Schulunterricht zum Schwimmkurs. Der Sohn des Schwimmlehrers – Zufall oder Bestimmung – ist Tänzer und überredet die Wagmans zur Aufnahmeprüfung in einem Tanzstudio. »Während der Audition«, erzählt Wagman, »sagte der Lehrer mit seinem russischen Akzent:‹›Er bewegt sich wie eine Katze‹. Der Rest ist Geschichte.« Bewegung habe ihn schon als Kind fasziniert – egal ob hoch aufsteigende Springbrunnen oder windgeschüttelte Baumkronen. »Ich erinnere auch die frühen Tanz-Wettbewerbe in Kanada, wie ich die Darbietungen meiner Mitschüler und der auswärtigen Teilnehmer mit aufmerksamer Spannung verfolgte. Für mich war klar, dass ich für den Rest meines Lebens tanzen wollte, bevor ich überhaupt eine Vorstellung von einem Job oder Beruf hatte.«

Wagman profitiert bald von Sommerkurs-Stipendien namhafter Compagnien bis hin zum Moskauer Bolschoi Ballett. In puncto professioneller Tanzausbildung entschließt er sich jedoch für die Académie Princesse Grace in Monte Carlo. »Diese Akademie hat erstaunlich hochtalentierte Studenten, was für mich sehr inspirierend war«, sagt Wagman. Auf sein Erfahrungs-Pluskonto gehen auch Auftritte wie beim Ballettfestival Dance Open in St. Petersburg oder bei der Gala de Danza in Los Cabos, Baja California Sur, Mexiko. Und immerhin: Als James in »La Sylphide« war er der jüngste Gast, der jemals in einer Hauptrolle am St. Petersburger Mariinsky zu sehen war.

Schon während seiner Ausbildung, er ist erst zehn oder elf, hat er die Chance, selbst Schritte zu entwerfen: »Der Lehrer in meiner ersten Tanzschule hatte mich in einem bevorstehenden Wettbewerb mit vier Soli angemeldet. Das letzte Solo konnte er aus Zeitmangel nicht mehr choreografieren. Ich sollte improvisieren, was mir total Spaß machte.« Das kreative Interesse ist geblieben: In den letzten Jahren hat Wagman Stücke entworfen für die Académie Princesse Grace, Les Rencontres Philosophiques de Monaco und die Gala de Danza in Los Cabos. Aber noch steht das aktive Tanzen im Vordergrund – vor allem nach einer schweren, aber nach eineinhalb Jahren ausgeheilten Verletzung. Und warum dann München? »Zu dem Zeitpunkt war das Staatsballett das einzige Ensemble, das offene Positionen hatte. Eigentlich hatte ich nicht auf ein Engagement gehoffft. Ich wusste, dass München vor allem hochgewachsene Tänzer verpflichtet … Ich habe jedoch nicht die Standardgröße dieses Ensembles.« Das trifft wohl zu. Aber Wagman macht durch seine Präsenz jedwede Körpermaße vergessen. Wenn er auf die Bühne kommt, ist da sofort ein Kaftzentrum, das die Wahrnehmung des Zuschauers gefangen nimmt.

Getanzt hat er bereits eine ganze Latte von Rollen und Partien, zunächst im Londoner English National Ballet, seit 2021 hier im Staatsballett. Und er wirft sich mit Haut und Haaren in jeden Stil hinein, ob klassisch, neoklassisch, modern oder zeitgenössisch. Ob Roland Petits »Coppélia«, Balanchines »Jewels« oder Sharon Eyals »Bedroom Folks«, Wagman wirbelt federleicht hindurch und wirkt doch in jeder Partie ungemein körperlich. »Es ist wunderbar, so viele stilistisch verschiedene Choreografien zu tanzen«, ist sein Kommentar zum Münchner Repertoire. »Ich musste hier oft kurzfristig einspringen, hatte dann nicht genug Zeit, mich tief genug in meine Partie hineinzufinden. Aber das hält einen wach, zwingt einen, aus dem Gefühl heraus zu agieren. Und es ist einfach schön, instinktiv alles Hinderliche abzustreifen in diesen konzentriert energetischen Momenten zusammen mit anderen.« Welches Ballett würde er gerne demnächst
tanzen? »Viele, einfach viele. Ich möchte das klassischen Repertoire erkunden. Es hat so eine Reinheit – und ich finde es gerade in unserer Zeit so wertvoll.« Nach dem Mercutio in John Crankos »Romeo und Julia« ist man gespannt auf den Benjamin in Christopher Wheeldons »Cinderella«. ||

CHRISTOPHER WHEELDON: CINDERELLA
Nationaltheater | 1. Okt. | 17 Uhr | 7. Okt | 19.30 Uhr
Videolivestream

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