Christoph Poschenrieder wagt in seinem neuen Roman »Ein Leben lang« eine subjektive Chronologie des Münchner Parkhausmordes. Am 6. Oktober liest er in Dachau.

Christoph Poschenrieder. Ein Leben lang

Alles andere als kaltblütig

christoph poschenrieder

Die Schlagzeilen sind schon lange verflogen, doch allein der Begriff lässt den Fall wiederaufleben. Die Boulevardpresse biss sich damals regelrecht an dem Münchner »Parkhausmord« fest, da das Opfer zur Münchner Bussi-Bussi-Gesellschaft gehörte, ein gefundenes Fressen also: Im Mai 2006 wurde die millionenschwere Unternehmerin Charlotte Böhringer in ihrem Penthouse oberhalb eines Parkhauses brutal erschlagen. Bald gab es einen Tatverdächtigen, den Neffen der Toten, der seine reiche Erbtante aus Habgier umgebracht haben soll. 2008 wurde er wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein Unterstützerkreis versucht seither, den Fall erneut aufzurollen und die Unschuld des Verurteilten zu beweisen.

Der neue Roman des Autors Christoph Poschenrieder könnte auf den ersten Blick eine True-Crime-Begleitung des Falls sein, denn die Rahmenhandlung ist nicht nur davon inspiriert, sondern bildet nahezu unverändert die Tatumstände ab – aus der reichen Erbtante macht er einen Onkel, die übrigen Details hat er übernommen. »Ein Leben lang« ist jedoch mehr als ein Tatsachenroman: Poschenrieder konzentriert sich weniger auf die Rekonstruktion des tatsächlichen Tathergangs oder die Motive, sondern interessiert sich vor allem für die psychologischen Auswirkungen im Freundeskreis des Täters. Der Roman spielt 15 Jahre nach der Tat und ist als Materialsammlung einer Journalistin inszeniert, die den Fall neu recherchiert. Mithilfe eines Verlagsvorschusses arbeitet sie sich in die Gerichtsakten ein und führt Interviews mit Beteiligten – immer in der Hoffnung, eine skandalträchtige Wendung herbeizurecherchieren. »Der Verleger wünscht sich einen Skandal«, notiert sie einmal nüchtern und hinterfragt ihr journalistisches Selbstverständnis und ihren Anspruch.

Muss ein Neuaufrollen neue faktische Erkenntnisse bringen, oder sind auch psychologische Ergebnisse berichtenswert? Im Zentrum des Romans steht die einstige Jugendclique des namenlosen Verurteilten: Till und Sebastian, die den Freund auch nach seiner Verurteilung noch verteidigen, der Jurist Benjamin, der das Justizsystem hinterfragt, die unentschlossene Emilia und die kritische Sabine, die eine Frage laut ausspricht, die in der Luft liegt, sich aber für alle ungehörig anfühlt: »Kann ein Mörder unser Freund sein und bleiben? Oder, wenn du es noch mal zuspitzen willst: Können wir es mit unserem Selbstverständnis vereinbaren, dass einer von uns einen Mord begangen hat?« Die Gesprächsprotokolle, im Verlauf auch Aussagen des mutmaßlichen Täters und seines Anwalts, ergeben nach und nach ein Gesamtbild, ergänzen einander bisweilen, widersprechen sich an anderen Stellen, nehmen die Positionen der anderen vorweg oder entlarven deren Erinnerungen als Lügen. Aus der Montage der Einzelinterviews entsteht so eine vielstimmige Collage, deren Brüche das schmerzhafte Dilemma der Freundesgruppe offenlegt.

Nüchtern, aber alles andere als kaltblütig hangelt sich Poschenrieder an der Recherche der Journalistin entlang und hält so die emotionale Spannung in der Schwebe, ohne neue Indizien präsentieren zu müssen. Die Schuldfrage rückt zwar nicht in den Hintergrund, aber sie steht gleichberechtigt neben viel schwammigeren, weil zwischenmenschlichen Diskussionen: Was passiert mit einem Freundeskreis, wenn einer als Mörder verdächtigt, angeklagt und verurteilt wird, gleichzeitig fehlt und omnipräsent ist? Wie entwickelt sich die Gruppendynamik weiter, wenn sich nicht mehr alle einig sind, wie mit einer Störung dieses Ausmaßes umgegangen werden soll? Christoph Poschenrieders Roman ist eine beeindruckende Versuchsanordnung und die Vielzahl an Antworten bildet eine subjektive Chronologie, die hinter den reinen Fakten hindurchschillert. ||

CHRISTOPH POSCHENRIEDER: EIN LEBEN LANG
Diogenes, 2022 | 304 Seiten | 25 Euro

LESUNG
Christoph Poschenrieder liest im Rahmen des Festivals »Dachau liest 2022« | Ludwig-Thoma-Haus, Augsburger Str. 23, 85221
Dachau | 6. Oktober | 20 Uhr

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