Trauma, Heilung, Aufstand: In der zweiten Halbzeit der Tanzwerkstatt Europa geht es in kleinen Formaten ums große Ganze.

Tanzwerkstatt Europa 2022

Zurück zum Körper, zurück zur Erde

tanzwerkstatt europa

Landschaft der Lebewesen: »Earths« von Louise Vanneste | © Caroline Lessire

Haben Sie schon was vor am Sonntag, den 7. August? Schon vorbei? Dann bitte unten weiterlesen. Noch nicht? In dem Fall die Zeitung weglegen und ab 14 Uhr ab ins Fluffy Cloud! Denn in diesem Zwischennutzungsprojekt im ehemaligen Sommerbad Georgenschwaige hat die Tanzwerkstatt Europa (TWE) zur Halbzeit einen künstlerisch-theoretischen Erlebnisparcours eingerichtet, für dessen performative Taktung die norwegische Choreografin Roza Moshtaghi verantwortlich ist. Das Riesentrampolin, das sie mitgebracht hat, ist ein Container mit bespringbarem Dach – und eine Einladung zum Drunterliegen, während über einem zwei Tänzerinnen in bunten Trikots ihre »Bouncing Narratives« erzählen (14, 16, 18 Uhr). Diese »hopsenden Geschichten« versprechen ein erstaunlich diszipliniertes Bilderflimmern mit gar nicht so fröhlichem Tenor. Denn es geht um die Verarbeitung von Traumata und um Heilung durch Rhythmus und Repetition. Und damit ist das Vorzeichen gesetzt, das die letzten Tage der diesjährigen TWE bestimmt. Hat man sich sonntags mit Lectures, künstlerischen Interventionen und Schnupperworkshops für lau intellektuell und somatisch in die rechte Startposition gebracht – ein Vortrag des prominenten Tanzpsychologen, Parkinsonforschers und sehr amerikanischen Entertainers Peter Lovatt inklusive – ist das Thema Tanz als Überlebensstrategie noch längst nicht abgefrühstückt.

Der neue Trend zur Achtsamkeit und Selbstfürsorge, den die Pandemie an die Oberfläche gespült hat, prägt auch die aktuelle Ausgabe des Branchentreffens, das seit mehr als dreißig Jahren Workshops für Tanzprofis und interessierte Laien mit sehenswerten Aufführungen flankiert. Ursprünglich von Corona verhindert – damals war in Ägypten kein Impfstoff verfügbar, eine Impfung aber Bedingung für die Einreise nach Deutschland – kommt die junge ägyptische Choreografin Salma Salem mit »Anchoring« nach München, während Teil 2 des Doppelabends wegen erneuter Visaprobleme von Synda Jebali von der polnischen Tänzerin und Choreografin Marta Wołowiec bestritten wird (10. August, Schwere Reiter). Thematisch scheint Wołowiecs »Tens« gut zu Salems Solo zu passen, das die Gebärmutter als »politisches Organ« reklamiert: »widerstandsfähig, gastfreundlich, nährend, kreativ und anpassungsfähig«. Ein Blick auf den Video-Teaser offenbart allerdings kein esoterisches Sich-Versenken, sondern einen eher struggelnden Sitztanz. Ein Ritual der Zerreißung? Ja, meint Salem, die sich per Mail aus Kairo meldet: »Es geht in diesem Stück um interne Kämpfe, ausgelöst durch äußere Kräfte. Wenn Tradition, Kultur, Religion, Kriege und der gesellschaftliche Druck den Körper belasten, kann die Natur, kann die Erde ihn wiederaufladen und nähren, sodass er aufstehen kann – gegen alles, wofür wir heute aufstehen müssen.« Allen voran gegen die männliche Deutungshoheit darüber, »wie eine Frau gehen, sprechen, sich anziehen oder sein soll. Es ist wie eine Obsession, die sich sogar auf das Innere des weiblichen Körpers erstreckt«.

Deshalb fängt für die studierte Psychologin auch der Widerstand dort an: »Das Bewegungsvokabular des Beginns ist vom Wesen der Gebärmutter beeinflusst, der tanzende Körper ankert und sammelt Energie von der Erde, die schließlich vom Körperzentrum zu den Gliedmaßen strömt.« Kein Zufall, dass ein französischer Kritiker über die vier Tänzerinnen in Louise Vannestes »Earths« schrieb, es wirke, als bezögen sie ihre Energie direkt von der Erde. »Earths« ist mehr feinstofflich und kontemplativ als spektakulär, dafür sitzt das Publikum mit Auge, Ohr und Geruchssinn dicht dran an der sonnengebleichten Mooslandschaft und allem, was über ihr die Luft bewegt. Vanneste, die gerade unerreichbar in den Bergen unterwegs ist, kooperiert eng mit Musikern, bildenden und Videokünstlern, gibt bei der TWE ein Intensive zu »body and mental journeys« und hat ein stetig wachsendes Interesse an Umweltfragen: Mit »Earths« (9. August, Muffathalle), schreibt Andrea Kerr aus dem Produktionsbüro, wollte sie sich von dem Verlangen befreien, Bewegungen zu konstruieren und diese stattdessen geschehen lassen. Anwesend-abwesend, sich jede für sich sehr langsam vorantastend, scheinen die Tänzerinnen der Pflanzen- näher als der Menschenwelt zu sein: »Sie lauschen unseren Vorfahren Algen, Wurzeln, Farnen und werden so Teil eines wilden Landes und der Natur, die ihre Rechte zurückfordert.«

Schon von den Titeln seiner Werke her ist Frédérick Gravel ein ganz anderes Temperament. Sie heißen »Usually Beauty Fails«, »All Hell is Breaking Loose, Honey« oder – im optimistischeren Fall – »Some Hope for the Bastards«. Nun kehrt der kanadische Rockstar des zeitgenössischen Tanzes, der sich als »mittelmäßigen Tänzer« bezeichnet, »der versucht, ein interessanter mittelmäßiger Tänzer zu werden«, am 11. August mit einem Solo zurück in der Muffathalle, wo man auch außerhalb der einschlägigen Festivals schon einiges von ihm gesehen hat. Der Choreograf, Musiker und Lichtdesigner aus Montréal kann Pathos, Headbanging und sehr sympathisch an sich und der Welt zweifeln – und konnte das schon, bevor das alle taten. »In einer Krise zu sein«, sagte er 2016, »ist das Mindeste, was wir Männer heute tun können«. In »Fear and Greed« zweifelt Gravel im Alleingang vor allem am Vermögen der Kunst, uns vor Patriarchat und Kapitalismus zu retten. Ob er dabei auch neu mit der Erde connected, ist nicht bekannt, mit seinen Ängsten und »inneren Monstern« allerdings schon. Dabei unterstützt ihn eine Band, die im Dunkeln bleibt, während er mit seinem Körper und seiner Gitarre im Hellen kämpft. Um Heilung – oder zumindest Versöhnung? ||

TANZWERKSTATT EUROPA 2022
noch bis 11. August | Website

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