Nach zwei Jahren Pause findet Radikal jung, das Festival für neue Regie, wieder im Volkstheater statt: bunter und internationaler denn je.

Radikal jung 2022

Das Fest nach der Pest

radikal jung

Wilde Kerle tummeln sich in Elias Adams »We are in the army now« | © Pinelopi Gerasimou

Das Festival Radikal jung hat sich seit 2005 zu einem Highlight der Münchner Theaterwelt entwickelt. Nach zwei Jahren pandemiebedingten Ausfalls findet das Festival für junge Regie nun wieder statt, ein bisschen später im Jahr als gewohnt, dafür so international wie noch nie. Elf Produktionen aus Athen, Kiew, London, Paris, Deutschland und aus dem Netz zeigen dem Münchner Publikum ihre Sicht aufs Theatermachen heute. Und die ist antirassistisch, feministisch und queer, betonen die Festivalmacher. Jens Hillje nennt es das »Fest nach der Pest«, was unwillkürlich an die Passionsspiele in Oberammergau denken lässt, die Volkstheater-Chef Christian Stückl inszeniert. Der freut sich, dass sich aus Radikal jung immer wieder weitergehende Arbeitsbeziehungen entwickeln. Was möglicherweise daran liegt, dass dieses Festival, wie Florian Fischer, der Neue im Team, sagt, die Künstler nicht nur einmal ans Licht zerrt, sondern ihre Entwicklung weiterverfolgt. Darin liegt für ihn auch die Bedeutung von Radikal jung in der Theaterlandschaft.

Eröffnet wird das Festival vom Left Bank Theatre aus Kiew mit »Bad Roads«. 2019 inszenierte Tamara Trunova am Royal Court Theatre in London sechs Szenen über das Leben und den Krieg von Natalia Vorozhbyt, der der »Guardian« eine Nähe zu Sarah Kane bescheinigte. Es handelt sich also um schweren Stoff. Der Krieg, in den sich eine Frau auf der Suche nach dokumentarischem Material begibt, ist der im Donbass, der bereits seit 2014 den Ukrainekrieg einleitete. Auf kaputten Straßen begegnen sich Opfer und Täter*innen und nehmen die Gegenwart vorweg.

Nur verbal ums Militär geht es in Elias Adams Performance vom Athener Onassis Stegi »We are in the army now«. Regisseur und Autor Adam scheint ein Spaßvogel zu sein. Seine Armee besteht aus Möchtegernsuperhelden, aus wilden Kerlen in Glitzer- und Tierprintkostümen in einem unbestimmbaren Orbit aus Cyberspace, Videospiel und Smartphonewelt. Alles glänzt und glitzert. Auf der Bühne räkeln sich die Schauspieler mal wie im Stripclub oder tragen gruselige Hasenmasken. Verhandelt werden homophobe griechische Väter und die religiöse Hingabe griechischer Mütter, und das alles anscheinend unter der (Kostüm-)Patenschaft von Kiss. Das Persönliche wird politisch und Tiktok goes Reality.

Überkandidelte Kostüme gibt es auch bei »Karneval« vom Theater Oberhausen zu sehen. Die Produktion der Choreografin und Performerin Joana Tischkaus ist dem Thema geschuldet quietschbunt. Tischkau entlarvt Exotismen und Rassismen der Spaßtradition Karneval und führt sie zu einem »unaushaltbar unterhaltsamen« Theaterabend zusammen, der lose mit der Geschichte von Simba aus dem »König der Löwen« verbunden wird. Jede Menge nervtötender karneval- und mallorcatauglicher Musikstücke dürfen nicht fehlen, wenn Tischkau an diesem diskursiven Abend fragt, wer eigentlich dabei ist, wenn Multikulturalität gefeiert wird. Na dann, helau!

Unter den von Festivalleiter Hillje diskursiv genannten Produktionen dürfte Kieran Joels »Identitti« vom Düsseldorfer Schauspielhaus an Diskurs kaum zu überbieten sein. Vorlage ist Mithu Sanyals Roman, in dem die Studentin Nivedita aus allen Wolken fällt, als sich herausstellt, dass die verehrte Professorin für Postcolonial Studies gar nicht Saraswati heißt, sondern Sarah Vera Tielmann und – gar keine Inderin ist, sondern: weiß. Sanyal bündelt in ihrem Roman die Identitätsdiskurse der letzten 20 Jahre. Joel bringt sie mit indischen Götterfiguren, deutschen Fußnoten und Social-Media-Wasserfall im Hintergrund auf die Bühne.

Vom Berliner Ensemble kommt eine feministische Performance von Lena Brasch, Laura Dabelstein, Miriam Davoudvandi und Fikri Altıntaş über Britney Spears. In ihrem Mashup der Lebensgeschichte der Popsängerin stellen sie die Frage, ob der sogenannte Absturz Spears’, der damit begann, dass die Sängerin sich die Haare abrasierte, und mit ihrer Entmündigung endete, nicht eher der Ausbruch aus einer fremdbestimmten Identität war. Biografisch, vor allem aber musikalisch wird Spears Leben in »It’s Britney, Bitch!« ausbuchstabiert. Sina Martens trägt die Inszenierung, tanzt die Britney im pinken Latexanzug, zeigt aber auch das Moll, singt Britneys Songs verfremdend, ihr Bett scheint ihr Gefängnis zu sein. So wie ihr Leben. Erst 2021 wurde Spears’ Entmündigung nach 13 Jahren aufgehoben.

Um eine junge Frau, die einen Schicksalsschlag erlitten hat, geht es auch in »Civilisation« von Jaz Woodcock-Stewart. Welchen, wissen wir nicht. Es scheint ein einsames Leben zu sein, von dem dieser eine Tag erzählt. Texte vom Handy, vom Laptop oder von einem Spielzeug platzen in die Stille. Wie Geister oder Spiegelbilder begleiten zwei Tänzerinnen und ein Tänzer die Protagonistin in dieser Kritik am modernen Leben.

Spiegelt der Tanz in »Civilisation« eher die innere Welt der Figur, geht es in Caner Tekers »Karadeniz« (Schwarzes Meer) vordergründig erst mal um die Theatralität türkischer Hochzeitspraktiken und ihre Tanzrituale. Dabei spielen die Tänze Halay und Zeybek eine Rolle und die Figur des Köçek. Das bedeutet auch »Transvestit« und war vor allem bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein Junge oder junger Mann, der sich wie eine Frau kleidete und schminkte und in den Meyhanes tanzte und auch der Prostitution nachging. Teker betrachtet diese androgyne Figur aus der Ferne einer postmigrantischen Existenz.

Auch Sorour Darabi aus dem Iran und inzwischen in Paris ansässig, arbeitet choreografisch und beschäftigt sich mit Sprache, Genderidentität und Sexualität. In der Storytelling-Tanzperformance »Mowgli«, die letztes Jahr bei Spielart zu sehen war, verhandelt Darabi anhand des gleichnamigen Dschungelwesens, wie Außen- und Selbstwahrnehmung einer Person auseinanderklaffen.

Um Wahrnehmung geht es ebenfalls tänzerisch in Ewelina Marciniaks Adaption der »Jungfrau von Orleans« vom Nationaltheater Weimar. Wie nahm ihre Umwelt das Bauernmädchen, das zur Heerführerin aufstieg, wahr? Wie sah sie sich selbst? Wie sieht die Gesellschaft heute Frauen, die »heldenhaft« oder einfach nur einflussreich und mächtig sind? Und was hat die androgyne Figur Johanna mit dem Feminismus von heute zu tun?

Mit der mehrfach preisgekrönten Digitalproduktion »Werther.live« von Cosmea Spelleken gibt es formal und inhaltlich einen Rückblick auf die Coronazeit. Lotte und Werther verlieben sich auf Ebay-Kleinanzeigen, man kann sonst ja nirgendwo »hingehen«. Werther leidet im 21. Jahrhundert im Netz, was seine Freunde und das Publikum mittels ScreenCapturing mitkriegen, also alles hören und sehen, was in seiner virtuellen Welt auf seinem Bildschirm passiert. Und wer »Gymnasium«, die fabelhaft düster-komische Highschooloper von Bonn Park vom Volkstheater bisher verpasst hat, der kann sie bei Radikal jung nachholen. Es gibt viel zu entdecken. ||

RADIKAL JUNG
Volkstheater | Tumblingerstr. 29
24. Juni bis 2. Juli | Tickets: 089 5234655

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