Der Kommentar zum Weggang von Igor Zelensky vom Bayerischen Staatsballett sorgte bei uns intern für Diskussionsstoff. Aus diesem Grund hat unser Redakteur Chris Schinke eine Replik verfasst, die ob es zwischen Putins Krieg, Cancel Culture und ganz konkret dem Fall Zelensky wirklich so klare Zusammenhänge gibt.
Nein, die Fälle Gergiev und Zelensky sind keine Beispiele für Cancel Culture
»Unterstützen Sie den Krieg?« – bei genauer Betrachtung ist die Gretchenfrage für russische Künstler, die wie Valery Gergiev, Igor Zelensky und andere im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, nicht sinnvoll zu beantworten. Wer sie verneint, dem drohen daheim in Russland Untersuchung und Strafverfahren. Angesichts der totalitären Umstände im Land könnte man mit einer Absage an den Krieg Putins die eigene Familie in Gefahr bringen. Politischen Selbstmord begehen und den Feldzug und seine Verbrechen begrüßen würde in Deutschland wohl auch keiner, zumal angesichts des Fortschreitens der russischen Gräueltaten in der Ukraine die potenziell strafrechtliche Relevanz kriegsunterstützender Aussagen mehr und mehr in den Fokus der Öffentlichkeit rücken dürfte.
Verschiedene Kommentator*innen, unter anderem auch in dieser Zeitung, deuteten die Vorgänge um den Rausschmiss Gergievs und den Rücktritt Zelenskys als ein Symptom unserer verbreiteten Diskussionen um Meinungsfreiheit. Von Cancel Culture, Meinungstotalitarismus, gar von Zensur war die Rede. Wird angesehenen russischen Künstlern das Recht auf freie Meinungsäußerung verwehrt? Wie so oft in diesen Tagen geht die aufgeregte Diskussion beim Thema Meinungsfreiheit am eigentlichen Sachverhalt vorbei. Die russische Kulturlandschaft ist aktuell mehr denn je gespalten in einen offiziellen staatlichen und einen inoffiziellen privaten Bereich, der immer stärkerer Repression unterliegt. Es bedarf im Fall vieler russischer Künstler, die es sich im staatlich geförderten Kunstsystem eingerichtet haben, gar nicht der Nachfrage, wie sie zu Putins Angriffskrieg auf das Nachbarland stehen. Entscheidende Teile der kulturellen Elite des Landes haben sich dazu längst verhalten. Sie haben sich für den Krieg gegen die Ukraine ausgesprochen, als dieser begann. Also nicht erst am 24. Februar dieses Jahres, sondern bereits 2014 mit der russischen Besetzung der Krim.
Ersichtlich ist die Unterstützung nicht zuletzt anhand eines offenen Briefes, den im Jahr 2014 mehr als 80 Kulturschaffende aus den einflussreichsten Kulturinstitutionen des Landes unterzeichneten. Zu ihnen gesellten sich schnell 500 weitere Intellektuelle, die den Unterstützungsaufruf für den Einmarsch in die Krim mitzeichneten. In dem so pathetischen wie servilen Text heißt es unter anderem: »In diesen Tagen, in denen sich das Schicksal der Krim und unserer Landsleute entscheidet, können die Kulturschaffenden Russlands nicht gleichgültige Zuschauer mit kaltem Herzen sein. Unsere gemeinsame Geschichte und unsere gemeinsamen Wurzeln, unsere Kultur und unsere geistigen Ursprünge, unsere fundamentalen Werte und unsere Sprache haben uns für immer vereint. Wir wollen, dass die Gemeinsamkeit unserer Völker und unserer Kulturen eine nachhaltige Zukunft haben. Deshalb bekräftigen wir unsere Unterstützung für die Position des Präsidenten der Russländischen Föderation in der Ukraine und der Krim.« Zu den Unterzeichnern des deprimierenden Dokumentes gehörten unter anderem so prominente Namen wie Valery Gergiev, zu dem Zeitpunkt Künstlerischer Direktor am Mariinski-Theater, Wladimir Urin, Intendant des Bolschoi, und Waleri Fokin, seinerzeit Chef am Petersburger Alexandrinski-Theater; die Unterzeichnerliste ist eine lange Litanei herausragender »Volkskünstler Russlands« aus sämtlichen künstlerischen Bereichen, versehen mit institutionellen Spitzenpositionen. Die Kulturoffiziellen des Landes, die den Aufruf nicht unterschrieben haben, muss man tatsächlich mit der Lupe suchen.
Hierzulande herrscht oft eine gewisse Naivität, was die Verquickung des russischen Staatsapparates mit dem Kulturwesen des Landes angeht. Oft heißt es, die Kunst baue Brücken und ermögliche den Dialog. Die russische Künstlerschaft wird als Ganzes gerne in einem neutralen Raum jenseits des Politischen verortet. Fakt ist jedoch, dass Künstlerkarrieren in Russland zumindest mit stillschweigendem Einvernehmen mit dem Handeln der politischen Klasse einhergehen. Wer in dieser Hinsicht oppositionelle Ansichten vertritt, wird schlicht und ergreifend nichts in den hohen Kreisen des russischen Kunstbetriebs. Die kulturpolitischen Stellschrauben wurden in jüngster Zeit dabei so sehr angezogen, dass freie Künstlerexistenzen faktisch nur noch vom Exil aus möglich sind, der Rest befindet sich im inneren Exil oder sitzt im Gefängnis. Die letzten verbliebenen Freiräume für kritische Presse und zivilgesellschaftliche Einrichtungen sind dabei genauso zusammengeschrumpft.
Kunst und Frieden, das halten viele für ein Begriffspaar, das zusammengehört. Es ist jedoch eine Illusion. In der Realität wird Kunst nicht selten für schreckliche politische Zwecke instrumentalisiert. In der Sowjetunion führte dies im 20. Jahrhundert gar zu einer staatlich angeordneten Ästhetik. Auch heute zeigt sich eine zunehmende Ideologisierung der russischen Kulturpolitik. Wladimir Putin unterzeichnete im Dezember 2014 eigenhändig ein Dekret, das die »Grundlagen der staatlichen Kulturpolitik« definiert. Der Präsident stellt darin fest, dass es sich bei der staatlichen Kulturpolitik um einen integralen Bestandteil der »nationalen Sicherheitsstrategie Russlands« handelt. Ihre Ziele bestehen in der »Bildung einer harmonisch entwickelten Persönlichkeit und der Stärkung der Einheit der russischen Gesellschaft«. Die staatlich geförderte Kunst soll besonders dabei helfen, die junge Generation mit dem notwendigen geistigen Rüstzeug zu versehen. Ihr sollen »die für die russische Zivilisation charakteristischen Werte, Normen und Verhaltensmuster« vermittelt werden. Das Ziel der russischen Kulturpolitik besteht darin, eine nationale Mentalität zu formen, mittels russischer Künstler soll sie – ganz im Sinne einer Kulturaußenpolitik – in die Welt hinausgetragen werden und ausländische, westliche Rezipienten von der hochstehenden und überlegenen »russländischen« Kultur überzeugen.
Wer hierzulande angesichts dieses Komplexes mit Meinungsfreiheit argumentiert, vergaloppiert sich. Dass sich Vertreter deutscher Kulturpolitik von Duzfreunden Putins wie Valery Gergiev und von vermeintlich Unpolitischen wie Igor Zelensky, der mit seiner Mitwirkung an einer Stiftung für die Schaffung russischer Kulturzentren auf der Krim Aufmerksamkeit erregte, distanzieren, ist kein Ausdruck von Cancel Culture, sondern eine längst überfällige Distanzierung von astreinen Profiteuren des Moskauer Apparats und seinem kulturpolitischen Arm. Unsere Solidarität sollte dabei tatsächlich russischen Künstlerinnen und Künstlern gelten, und zwar denen, die sich vom staatlich organisierten Kunstbetrieb fernhalten. Sie sind die einzigen, die tatsächlich »gecancelt« werden – und zwar von Putins Mafiastaat.
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