Vor 100 Jahren wurde der Münchner Schriftsteller und Aktivist Carl Amery geboren. Klaus Hübner erinnert sich an den »Linkskatholiken«.

Carl Amery: Der 100. Geburtstag

»Was anderes bleibt ihm denn als Konservativem übrig, als links zu stehen?«

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Carl Amery | © Ullstein – Friedrich, c/o Ullstein Bild

München, Freising und Passau waren seine wichtigsten Lebensstationen – Carl Amery, einer der einflussreichsten deutschen Vordenker der Ökologiebewegung und einer der markanten Gründungsväter der Grünen, zeitweise Direktor der Münchner Stadtbücherei und Vorsitzender des Verbands deutscher Schriftsteller (VS), war immer im Bayerischen verwurzelt. »Das konservative Milieu, in dem ich aufwuchs, war das des süddeutschen Bildungskatholizismus«, schrieb er 1983. Es hat ihn nie ganz losgelassen, auch wenn es in der und durch die Nazizeit fast untergegangen ist und die spätere »Koalition des Geldes, der Technik und der Profitwirtschaft« nicht aufhalten konnte. In seinem Essay »Glanz und Elend der bayerischen Schriftsteller« (1968) hat er Johann Andreas Schmeller, Johann Michael Sailer und Ignaz von Döllinger als geistige Ahnherren genannt – katholisch alle drei, aufklärerisch ebenfalls und bayerisch sowieso.

Religiöser Kämpfer

Carl Amery suchte, wenigstens zeitweise, eine Synthese zwischen seinem katholischen Glauben und den grundlegenden, wissenschaftlich fundierten Wahrheiten der Moderne, und auch er wollte seinen Glauben unter den Bedingungen der Aufklärung verteidigen und erneuern. Insofern ist er ein Erbe der katholischen Aufklärung – ja, die hat’s wirklich gegeben, nicht nur im 18. Jahrhundert. Atheismus oder Agnostik versus Religiosität, darum gehe es heute nicht mehr, sagte er 1986 in einem Gespräch mit dem Nürnberger Magazin Plärrer. Sein Vorbild sei Lessing. Walter Jens behauptet im Vorwort zu Amerys Essaysammlung »Bileams Esel« (1991), dass Erasmus von Rotterdam »sein geheimes Vorbild« sei. Amery sei »ein Aufklärer« gewesen, »der aufs Bewahren und Behüten ausgeht (sofern es sich lohnt), ein konservativer Rebell, der zugleich radikal und behutsam, zornig und sanft ist«, sagt Jens, »ein friedlicher Aufklärer und störrischer Konservativer«.

Klar ist, dass das »Hinter-sich-Lassen einer weiß-blauen Kleinkariertheit«, wie Bernhard Setzwein das formuliert hat, für Carl Amery konstitutiv ist, und klar ist auch, dass sein kreativer Witz und seine subtile Ironie mitzubedenken sind, wenn man sich mit seinen Romanen beschäftigt. Kaum jemand kennt noch »Die Große Deutsche Tour« (1958), »Das Königsprojekt« (1974), »Der Untergang der Stadt Passau« (1975), »An den Feuern der Leyermark« (1979), »Die Wallfahrer« (1986) oder »Das Geheimnis der Krypta« (1990). Die nicht immer leicht zugänglichen literarischen Werke wurden schon immer weit weniger gelesen als Carl Amerys wirkmächtige Aufsätze und Reden. In »Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute« formulierte er seine Kritik an der unbewältigten Vergangenheit des deutschen Katholizismus der Jahre 1933 bis 1945. Im Nachwort zu diesem erstmals 1963 erschienenen Buch, das ihm das aus der Zeit heraus verständliche, aber nicht ganz treffende Label »Linkskatholik« eintrug, betont der »in kleinen bayerischen Bischofsstädten« aufgewachsene Autor, dass er nicht gegen, sondern mit dem Katholizismus argumentiere.

Umweltaktivist

»Im Grunde genommen ist er wohl ein Konservativer, und was anderes bleibt ihm denn als Konservativem übrig, als links zu stehen?«, heißt es in »Blick in den Spiegel«, einer Art Selbstporträt aus dem Jahr 1965. Wer allen Menschen, insbesondere aber allen Christen ihre Verantwortung für die gesamte Schöpfung ins Stammbuch schreiben möchte, wurde in den 1960er Jahren zwangsläufig als Linker angesehen. Was Amery der Amtskirche vorwarf, nämlich ihre Kapitulation vor Hitler und damit den Verrat am urchristlichen Prinzip der Caritas, hat sich für ihn in der frühen Bundesrepublik nicht erledigt. Schon kurz nach 1970 wies er immer vehementer darauf hin, dass auch das widerstandslose Hinnehmen der Umweltzerstörung eine Sünde wider Gottes Schöpfung sei und dem offiziellen Katholizismus angelastet werden müsse. Die damals gängige Vorstellung einer dem Menschen und seinen Technologien zu unterwerfenden Erde, die in den Ländern des einstigen Ostblocks womöglich noch fatalere Folgen habe als im Westen, sei antiquiert und gefährlich. Mehr noch: »Nicht nur unsere eigenen Völker, sondern den ganzen Planeten haben wir, hat Europa auf einen Weg gewiesen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Weltuntergang führt«. Trotz aller Veränderungen, wie grün auch immer diese waren und sind, seien wir, wie er 1982 schrieb, »seit 1970 um keinen wirklich praktischen Schritt weitergekommen, und es besteht vorläufig auch gar keine Aussicht, dass wir weiterkommen«. Das gilt bis heute, obwohl uns der rasant fortschreitende globale Klimawandel eigentlich dazu zwingt.

Der Untergang ist absehbar, aber nicht zwingend Heute wird das von Carl Amery formulierte Krisenszenario weithin akzeptiert, mal mehr und mal weniger. Der Mensch, so hat er immer wieder betont, sei nur dann die Krone der Schöpfung, wenn er wisse, dass er sie eben nicht ist. Das kommt einer Ethik, wie sie auch bei katholischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts anklingt, schon sehr nahe. Mit einem allerdings grundsätzlichen Unterschied: »Aufklärung geht, wie immer, auch heute um den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen; aber die Werkzeuge des alten philosophisch-geisteswissenschaftlichen Arsenals genügen nicht mehr, um solche Verstandesverwendung wirksam zu machen«. Im Vorspann zu »Global Exit« (2002) schrieb er: »Es ist vorauszusehen, dass die Lebenswelt, wie wir sie kennen und bewohnen, im Laufe des anhebenden Jahrtausends zusammenbrechen und unbewohnbar werden wird. Es ist vorauszusehen, dass die Kirchen der Christenheit sehr bald, vielleicht im Laufe dieses Jahrhunderts, in völlige Bedeutungslosigkeit absinken werden.« Der Untergang des Gewohnten ist also absehbar, aber zwingend ist er nicht. Noch nicht. Die Hoffnung stirbt zuletzt, selbst wenn auch heute noch, in Amerys Worten, viel zu oft gilt: »Verantwortung für künftige Generationen? Nachhaltigkeit? Nicht unser Bier. Nicht unser Sliwowitz. Nicht unser Coke.« Der Untergang der christlichen Kirchen ist demnach ebenfalls absehbar. Zwingend jedoch ist auch er nicht. Noch nicht. Selbst wenn ganz klar sei, dass es seitens der Kirchen »massiven Widerstands gegen die Zentralströmung unserer Mammon-Welt bedarf, um auch durchschnittlichen, zögerlichen, ja schwachen Zeitgenossen ein Leben in Wahrheit zugänglich zu machen«. Ist da, zwanzig Jahre später, noch etwas Wichtiges zu ergänzen? Ich glaube nicht. Carl Amery hat alles schon gesagt. 2005 ist er gestorben. Sein Grab findet man auf dem Münchner Ostfriedhof. Seine Bücher bleiben. ||

Die wichtigsten Bücher von Carl Amery sind im Luchterhand Literaturverlag, im Süddeutschen Verlag und im Paul List Verlag erschienen. Luchterhand veröffentlichte kürzlich unter dem Titel »Durchbruch ins dunkle Glück« eine Neuausgabe der Romane »Die Wallfahrer« und »Das Geheimnis der Krypta«.

Weitere Texte zu aktuellen Buchveröffentlichungen finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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