Die russische Gegenwart hat die düstere Fiktion von Sasha Filipenko längst eingeholt. Deshalb schauen wir uns sein Werk »Die Jagd«, 2016 erschienen und nun in Deutsch erhältlich, genauer an.

Sasha Filipenko – Die Jagd

Gnadenlos

sasha filipenko

Es ist eine Hetzjagd, die in diesem Buch betrieben wird. Ein unaufhörliches Malträtieren und Terrorisieren. Erst sacht, dann immer heftiger. Ohne Gnade. So lange, bis der Mensch und seine Psyche gebrochen sind. Eine Menschenjagd, wie sie in Putins Russland seit Jahren System hat.

Sasha Filipenko erzählt in seinem eben auf Deutsch erschienenen Roman »Die Jagd« von der Gefahr, der Journalisten ausgesetzt sind, die sich in Russland mit den Mächtigen anlegen. Einer dieser Mächtigen im Roman ist der Oligarch Wolodja Slawin, der sich als eifriger Patriot inszeniert und große Ambitionen auf eine politische Karriere hat. Als der Journalist Anton Quint enthüllt, dass Slawin sein Vermögen außer Landes gebracht hat und mit seiner Familie lieber an der Côte d’Azur weilt, als in Russland zu leben, setzt er alles in Bewegung, um ihn mundtot zu machen. Die Jagd beginnt.

Filipenko treibt seine temporeiche Geschichte auf raffinierte Weise voran. Angelegt als Sonate mit Haupt-, Zwischen- und Seitensätzen wechselt die Perspektive von Kapitel zu Kapitel zwischen den Protagonisten. Da ist Slawin, der nach den Enthüllungen gezwungen ist, mit seiner Familie nach Russland zurückzukehren, um sein angekratztes Image zu pflegen. Der Journalist Anton, der mit Frau und Kind im Zentrum Moskaus lebt und sich in seinem Idealismus nicht davon abbringen möchte, weiter pikante Details über Slawin zu veröffentlichen. Den Hauptsatz der Sonate bildet die Geschichte von Lew Smyslow, der rückblickend erzählt, wie er mit einem weiteren Handlanger namens Kalo mit allen Mitteln dafür sorgte, dass Quint keine Zeile mehr über Slawin schreiben wird.

»Wir servierten Quint immer neuere Gemeinheiten und Schweinereien. Tag für Tag vermiesten wir ihm das Leben. Aufgeschlitzte Reifen, ein Sprung in der Windschutzscheibe von einem Hammerschlag. In seinem Kopf braute sich im Eiltempo eine Paranoia zusammen.« Dazu kommen permanente Lärmbelästigung und gestreute Falschinformationen in den Medien. Eine skrupellose Machtdemonstration, eine sadistische Zermürbung, die Anton in den Abgrund reißt. Und seine Familie mit ihm. »Die Jagd« erschien bereits 2016 in Russland, und es ist beängstigend, wie nah sich das Buch an der Realität bewegt, gerade jetzt. Anton schreibt neben seiner Arbeit als Journalist an einem dystopischen Roman. Eine Gerichtsverhandlung, besser gesagt ein Schauprozess, der live im Fernsehen übertragen wird. Angeklagt ist ein Autor, der auf Social Media einen Post ohne Inhalt veröffentlichte und dadurch laut Anklage den russischen Stolz verhöhnte. Vor wenigen Wochen wurde in der russischen Stadt Rostow am Don Anastasia Nikolaeva für acht Tage inhaftiert, weil sie mit einem leeren Pappschild gegen den Ukrainekrieg protestierte. Für Regimekritiker ist die Dystopie längst zur Realität geworden.

Das spürte auch Filipenko. Der gebürtige Belarusse arbeitete in St. Petersburg als Journalist, Drehbuchautor und Fernsehmoderator, bevor er 2020 Russland verlassen musste. Derzeit wohnt er mit seiner Familie an wechselnden Orten in Westeuropa. Bei einer Rückkehr rechnet er fest mit einer Verhaftung, auch in Belarus, wo sein Vater regelmäßig vom Geheimdienst nach ihm befragt wird. »In Russland leben heißt, fähig zu sein, die Augen zu verschließen«, schreibt Filipenko. Am Ende der Sonate, in der Coda, gibt es keine Hoffnung. Filipenkos Fiktion ist so düster wie die russische Gegenwart. Oder umgekehrt. ||

SASHA FILIPENKO: DIE JAGD
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
Diogenes, 2022 | 288 Seiten | 23 Euro
Lesung am 5. Mai um 20 Uhr im Literaturhaus München

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