Die Kunstvermittlung an städtischen und staatlichen Institutionen ist seit Jahren ein etabliertes Modul bei der Kundenbindung. Wie macht das die freie Szene, die einem völlig anderen Rhythmus bei der Projektarbeit folgt? Rita Argauer sprach mit den Protagonisten aus Theater, Tanz und Musik.

Kunstvermittlung in der freien Szene

Es tut sich was

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Anna Donderer © Jan-Marc Thurmes

Kunstvermittlung, das kennt man von den städtischen und staatlichen Theatern und Orchestern mit ihrem Bildungsauftrag, der mit der öffentlichen Förderung einhergeht. Die haben seit Jahrzehnten eigene volle Stellen für so etwas. Da gibt es zu jedem Stück und zu jeder Aufführung Einführungen. Da wird dem Publikum die gängige Interpretation und die des jeweiligen Regisseurs erklärt. Da gibt es Schulprojekte, die Jugendliche an die klassischen Formen heranführen. Da gehört die Vermittlung dessen, was da auf die Bühne gestellt wird, zur Kunst dazu. Doch wie ist das in der freien Szene? Das Theaterbüro München hat gerade das Arbeitsbuch »Schau mer mal« herausgegeben. Eine Broschüre, die sich mit Vermittlungsarbeit in der freien Theaterszene auseinandersetzt. Vorschlägt. Und Wege aufzeichnet.

Die Kunst der freien Szene gilt gemeinhin als sperriger und experimenteller als die Klassiker. Ein Nischenpublikum schaut sich die kleinen Produktionen an. Oder wie Anna Donderer es ausdrückt: »Es kommt seit Jahren dieselbe Bubble.« Und jetzt – in Zeiten der Corona-Beschränkungen – kommt überhaupt keiner mehr. Jetzt ist also umso dringlicher die Zeit für die Künstler*innen und Dramaturg*innen, die Komponist*innen und Veranstalter*innen, sich Gedanken darüber zu machen, wer sich die Sachen anschauen möchte, die sie da so fabrizieren. Wen das interessiert. Und wer das verstehen kann und will, was da auf die Bühne gestellt wird.

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SCHAU MER MAL. VERMITTLUNGSFORMATE FÜR
DIE FREIEN DARSTELLENDEN
KÜNSTE
Herausgeber: Theaterbüro
München GbR & Anna Wieczorek München, 2021 | 72 Seiten kostenfrei zu bestellen unter: hello@theaterbueromuenchen.de

Wirtschaftlich gesehen klingt alles eigentlich ganz einfach: Man stellt ein Produkt her – in diesem Fall ein Bühnenstück – und hofft, dass sich genug Menschen dafür interessieren und sich besagtes Produkt dementsprechend verkauft. Natürlich muss man in Marketing investieren. Doch letztlich bestimmen Angebot und Nachfrage den Markt. Und unter diesem Aspekt darf man beim Theater und bei der Kunst (mal abgesehen von einem durch eine querschießende Investitionsjagd völlig überhitzten Kunstmarkt) gar nicht erst anfangen: Fail, durchgefallen, funktioniert alles nicht, trägt sich alles nicht. Doch halt: Zum Glück gibt es in dieser Gesellschaft doch ein paar Bereiche, die ideeller funktionieren als der Markt. Theater und die darstellende Kunst dürfen, ja müssen sogar kompliziert sein, wenn sie eine adäquate Abbildung für natürlich komplizierte Gesellschaftsverhältnisse sein sollen.

Doch ohne öffentliche oder private Förderungen gäbe es die meisten Veranstaltungen gar nicht, was die Sicherung eines Mehrwerts für die Gesellschaft umso dringlicher in den Fokus rückt. Genau deshalb lohnt es sich darüber nachzudenken, wie man diese, markttechnisch gesehen völlig scheiternde, Angebotsform vor allem ideell überlebensfähig macht.

Selber machen!

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Simone Schulte-Aladag © Jan-Marc Thurmes

Die Meinungen dazu sind in der freien Szene in München so divers wie die Kunst selbst. Für Simone Schulte-Aladag vom Tanzbüro München liegt etwa der Fokus auf der Jugendarbeit. »Da machen wir seit Jahren richtig viel«, erklärt sie. So kamen etwa die Projekte »Anna tanzt« und »Heinrich tanzt«, die auch in Kooperation mit dem Bayerischen Staatsballett Tanz an Schulen brachte, ursprünglich aus der freien Szene: 2006 habe man mit diesem Fokus auf Tanz in Schulen begonnen, erklärt Schulte-Aladag. Damals gab es über den Tanzplan Deutschland Fördergelder, dadurch sei vieles ins Rollen gekommen. Zeitgenössischer Tanz gilt als sperrig, wie kann eine solche Kunstform vermittelt werden? Für Schulte-Aladag ist das eigentlich ganz einfach: Übers Machen. Anders als bei der Musik, wo man erst einmal ein gewisses Können erlangen muss, kann man schon aus Alltagsbewegungen relativ leicht künstlerische Bewegungen schaffen und damit den Weg zum zeitgenössischen Tanz ebnen. Die Schulprojekte funktionierten genau auf diesem Weg, indem die Jugendlichen selber Bewegungsformen und Stücke entwickelten. Auf der Jugendarbeit fußt auch das regelmäßige Festival »Think Big«, das seit 2011 stattfindet und sich ebenfalls an ein eher jüngeres Publikum richtet.

»Letztlich sollen die Kinder auch mal sehen, was sie da selber machen«, sagt Schulte-Aladag. Also wer in Schulprojekten tanzt, möchte vielleicht auch mal erleben, wie das so auf der Bühne funktioniert. Außerdem hat das Tanzbüro ein Modell entwickelt, in dem Lehrerinnen und Lehrer sich explizit mit zeitgenössischer Bühnenkunst auseinandersetzen können. Zehn bis 15 Lehrer*innen treffen sich da alle zwei Monate mit Künstler*innen, werden so zu »Performance Experts« und zu »Multiplikatoren« gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern. »Wenn die Lehrer bei uns sind, dann können sie den Tanz in der Schule auch viel besser vertreten«, erklärt Schulte-Aladag.

Nahbarkeit statt Didaktik

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Moritz Eggert © Susanne Diesner

Der Komponist Moritz Eggert spielt als Professor an der Hochschule für Musik und Theater München eine Art Doppelrolle. Er ist als Komponist gefragt, seine Stücke werden regelmäßig in München aufgeführt. Gleichzeitig hat er auch Studierende, Klassen, die er betreut. Auffällig aber ist, dass in den Konzerten für zeitgenössische Musik die Altersgrenze doch erstaunlich hoch liegt. »Die jetzigen Studenten gehen weniger ins Konzert als ich früher«, erklärt Eggert. Ein Großteil von deren Musikkonsum laufe übers Internet, »die suchen sich obskure Youtube-Videos und gehen nur ins Konzert, wenn sie das Gefühl haben, sie müssen da hin, weil es sie beruflich weiterbringt. Deshalb funktionieren Festivals wie die Donaueschinger Musiktage«, sagt er, »als Jobbörse«. Eggert ist lakonisch, aber trifft einen heiklen Punkt.

Seine Diagnose: Das Konzertformat für klassische Musik ist seit gut 100 Jahren eingefroren. Das habe es so noch nicht gegeben in der Musikgeschichte. Er nennt es eine Erstarrung. Und daran zeige sich laut Eggert eben auch, wie wenig sich diese Konzertformen selbst erklären. Zeitgenössische Musik funktioniert für Eggert genau deshalb in klassischen Konzertsälen überhaupt nicht. Er beobachte auch, dass die Vermittlungsarbeit für jüngere Publikumsschichten in der zeitgenössischen Musik hauptsächlich über die Aufführungsorte funktioniert. Es gibt also Konzerte in Techno-Clubs, in einem Fast Food-Restaurant oder in Bordellen – da wird der Zugang durch die Neugier auf den anderen Ort (Bordell) oder die Vertrautheit des Ortes (Techno-Club) geschaffen.

Martina Missel © Jasmine Ellis Projects

Bei den großen städtischen Orchestern hingegen sehr beliebt ist die Konzerteinführung. »Zu didaktisch«, erklärt Donderer vom Theaterbüro. »Zu spießig«, sagt Eggert. Funktioniert nicht. Keiner will Schule, wenn er abends irgendetwas unternimmt, das ihn vielleicht zufällig ins Foyer eines freien Theaters gespült hat. Wenn Publikumsgespräche stattfinden, dürfen die auf gar keinen Fall einseitig sein. Ganz im Gegenteil: Man müsse sich öffnen, erklärt Martina Missel vom Theaterbüro, man müsse die Räume öffnen, hinter die Bühne schauen. Diese Gedanken führen weg vom Theater als sakralen, hermetisch abgeschlossenen Ort und weg vom Stück als in der wissenschaftlichen Interpretation erstarrte Monstranz. Viel mehr: »Nahbarkeit fördern und den Leuten zeigen, dass sie ihrer eigenen Interpretation vertrauen können«, sagt Missel.

Davon wiederum profitieren auch die Künstler*innen: Neue Inputs, neue Sichtweisen, nicht immer die eigene Bubble – das befruchtet auch das eigene Schaffen. Vieles wird probiert, nicht alles funktioniert. Das bestätigen sowohl die Macherinnen des Theaterbüros als auch Moritz Eggert. »Ich finde es grundsätzlich gut, wenn man etwas probiert. Da ist auch viel Quatsch dabei. Aber manchmal funktioniert’s.« Und: »Eine grundsätzliche Aufbruchstimmung gibt es eigentlich. Das kann was, da kann was passieren. Das ist nur gerade ein bisschen ausgebremst.« Womit die Gedanken zwangsläufig zu den nun schon knapp zwei Jahren andauernden großen und dauerhaften Corona-Beschränkungen führen.

Christiane Böhnke-Geisse © Ralf Dombrowski

Damit kämpft auch Christiane Böhnke-Geisse gerade besonders. Vor gut zwei Jahren hatte sie das Booking und die Programmgestaltung der Musiksparte im Schwere Reiter übernommen. Die laufenden Beschränkungen haben ihr viel zerschmettert. Denn sie setzt eher auf feine, sich in der Kunst selbst vermittelnde Ideen. »Das ist ein großes Problem für mich«, erklärt Böhnke-Geisse. Denn: »Corona lässt das fast nicht zu, dass sich Programmformate entwickeln, die auch beinhalten, dass sich jenseits des Stückes etwas vermittelt.« Böhnke-Geisse plant ihre Konzertreihen eigentlich so, dass sich durch die Zusammenstellung der Konzerte Fäden und Verästelungen ergeben, die ein größeres Thema beinhalten – politisch oder gesellschaftskritisch. Die Programmgestaltung ist für Christiane Böhnke-Geisse die Vermittlungsarbeit, die nachvollziehbar sein soll. Das Publikum ist ihr dabei der wichtigste Partner: »Der Adressat ist wichtig. Für wen soll das sonst sein?«, fragt sie. Eigentlich wollte Böhnke-Geisse schon 2019 solche Programmzüge entwickeln – dann musste sie die Konzerte verschieben und absagen, zuerst wegen dem Zirkus Roncalli, der vor der Tür des Schwere Reiter gastierte und die Aufführung leiser Musik unmöglich machte. Dann wegen Corona. Von da an wurde Verschieben und Absagen sowieso zum einzigen roten Faden der Konzertplanung; für Böhnke-Geisses Ansatz ein Killer. »Es ist die volle Handbremse«, sagt sie. Anders als ihre Kollegen sind aber für sie Konzerteinführungen nicht so eine schreckliche Vorstellung. Sabine Liebner mache das gerne, auch KP Werani, zählt sie auf. Wobei sie hier einen wichtigen Punkt nennt, den auch Anna Donderer, Martina Missel und Laura Martegani vom Theaterbüro betonen: Böhnke-Geisse redet hier von den Künstlern selbst, die eine Einführung geben. Die Künstler selbst stehen im Foyer dem Publikum gegenüber und unterhalten sich im wörtlichen Sinn auf Augenhöhe miteinander.

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Laura Martegani © Jan-Marc Thurmes

Prozesse sichtbar machen

Für Anna Donderer ist das der ausschlaggebende Punkt: Nicht das Erklären soll im Vordergrund stehen, sondern die Prozesse sollen gezeigt werden: Wie arbeiten die Künstler*innen? Wie entsteht das Stück? Barrieren sollen abgebaut werden, die Künstler sollen zeigen, worüber sie nachdenken. Und dann spricht sie einen ganz wichtigen Aspekt der freien Kunst an: Es geht hier nicht um Stars oder Promis. Die Menschen, die hier Kunst schaffen und auf Bühnen stellen, sind nicht berühmt oder abgehoben, sondern: »Es sind auch ganz normale Leute.« In der Außenwahrnehmung sei die freie Kunst immer so experimentell, erklärt Donderer weiter. Doch eigentlich sei das ja viel zugänglicher, weil die Kunstschaffenden eben viel zugänglicher sind als die Operndiva oder der Starpianist. Donderer und das Theaterbüro vertreten da einen fast demütigen Ansatz: Sie wollen von Menschen außerhalb ihrer eigenen Szene erfahren, was sie wahrnehmen. Doch dieser Punkt hat auch etwas Zwiespältiges: Denn, wenn es darum geht, jemanden ins Theater zu locken, der an sich erst einmal kein Interesse daran hat, schwingt auch immer ein bisschen mit: Wir wissen, was Dir gefallen könnte. Eine latent missionarische Haltung, die absolut konträr zu dem ist, was die drei eigentlich wollen. Und es sind kleine Schritte. Donderer nennt es ein »Glücksspiel«. Wenn jemand das erste Mal eine Vorstellung der freien Szene besucht, dann muss das Format auch in Bezug auf die Person stimmen. Wenn das funktioniert, dann entstünden kleine, wunderschöne Erweckungsmomente, die man auch von sich selbst kenne. Aber: »Man darf auch etwas blöd finden, ohne dass es auf irgendeine Weise peinlich ist«, sagt Martegani. Viel wichtiger: der Austausch, von dem beide Seiten profitieren sollen.

Nicht der Ort zum Sparen

Und so spiegelt sich in der Vermittlungsarbeit der freien Szene auch immer ihr Gegensatz zu den Staatstheatern. Auch hier werden andere Formate gesucht. Auch hier öffnet sich die vierte Wand schneller und viel gewollter. Die Arbeit ist in der frieen Szene oft ideeller. Doch es gibt auch Punkte, die die freien Bühnen mit den städtischen und staatlichen einen. Und diese sind viel eklatanter, ja existenzieller für die Darstellenden und die Bühnenkünste an sich: Man muss sich immer wieder neu, hier wie dort, um ein Publikum bemühen. Abonnements sind in der freien Szene kaum realisierbar. Mit jedem Projekt beginnt die Vermittlung quasi bei Null. Deshalb ist es umso wichtiger, interessante Themen zu setzen, deren künstlerische Umsetzung für die Zuschauer als Teil der Gesellschaft wichtig ist. Oder deren Wichtigkeit zumindest erkannt oder erspürt werden kann, auch von einem Publikum, das sich nicht nur aus Nerds, Experten, dem Freundeskreis oder Familienangehörigen der Künstler*innen zusammensetzt (wobei man auch diese Personenkreise bei den Veranstaltungen leider oft vermisst). Gerade jetzt, wo eine ganze Menge Menschen, die einst regelmäßig ins Theater gegangen sind, zwangsläufig gemerkt haben, dass sie auch weiterleben können, wenn sie nicht mehr kontinuierlich Kulturveranstaltungen besuchen. Laura Martegani: »Die Leute entwöhnen sich. Sie haben Angst wieder rauszugehen oder gehen lieber Bier trinken oder essen. Das wird noch dauern, bis sich die Theater wieder füllen.« Aber
Kunst findet fürs Publikum statt. Damit das Publikum zur Kunst findet, müssen die Türen in jeder Hinsicht wieder aufgehen. Anna Donderer bringt es auf den Punkt: »Hier ist nicht der Ort zum Sparen. Wir müssen Geld in die Hand nehmen können, um dem Publikumsverlust entgegenzuwirken.« Martegani ergänzt: »Es ist wichtig, die Vermittlungsarbeit wirklich zu fördern. Das sollte die Kulturpolitik auch so sehen.« ||

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