Der neue Roman »Vernichten« von Michel Houellebecq kreist vordergründig um das Thema Wahlen in Frankreich. In Wirklichkeit aber geht es um die großen Themen Vernunft und Glaube.

»Vernichten« – Michel Houellebecq

Gefährliche Leerstelle

vernichten

Dem Protagonisten Paul Raison geht es im Grunde nicht allzu schlecht. Er hat einen aussichtsreichen Posten im Wirtschaftsministerium inne, verfügt über ein respektables Einkommen, eine vorzeigbare Pariser Wohnung und ist verheiratet. Es braut sich allerdings etwas zusammen in Frankreich und im neuen Roman von Michel Houellebecq. Bald finden Präsidentschaftswahlen statt, das Land wird von einer Reihe mysteriöser Anschläge erschüttert und bei genauem Hinsehen herrscht in Pauls Eheleben seit geraumer Zeit tote Hose. Seine Frau Prudence und er leben nebeneinander her, in einem Verhältnis, das als Wohngemeinschaft treffender bezeichnet wäre. Als eines Tages ein Hinrichtungsvideo im Internet auftaucht, das die Enthauptung von Pauls Ministerchef Bruno Le Maire, aussichtsreichem Kandidat für eine künftige Präsidentschaft, zeigt, gerät Pauls Leben zusehends aus dem Tritt. Zum Glück ist der Videoclip ein Fake, doch weitere reale Anschläge wie etwa auf ein Kreuzfahrtschiff, eine Samenbank, ein Tech-Unternehmen und ein Flüchtlingsschiff verschärfen die politische Situation. Im Land dagegen bleibt es seltsam ruhig. Die Bevölkerung scheint sich an Terroranschläge gewöhnt zu haben. Für größeres Aufsehen sorgt die Kandidatur des konservativen Benjamin Sarfati, ein ehemaliger TV-Promi sowie – noch schlimmer – das Antrittsversprechen eines rechten Jungspundes auf Seiten des Rassemblement National. Alles in allem geht es also bergab. Auf erzählerischer Makroebene zeichnet Houellebecq einmal mehr die Stagnation des westlichen Zivilisationsmodells; zudem den schrittweisen Niedergang der Nation, auch wenn zwischendrin die Wirtschaftszahlen okay sind; und schließlich auf individueller Ebene mit seinem Protagonisten und dessen Vater, der einen Schlaganfall erleidet und ins Koma fällt.

»Vernichten« ist Titel und Grundprogramm des Romans, der sich einerseits Houellebecq-typisch schonungslos zeigt (inklusive einer besonders irritierenden Szene mit einem Escort-Girl), andererseits einen ganz anderen Ton anschlägt, wenn es um die Sinnsuche seiner Figuren geht. Nicht zufällig wendet sich Pauls Ehefrau aufgrund eines Mangelgefühls den Glaubenssätzen einer obskuren esoterischen Gemeinschaft zu, und der aufgeklärte Paul selbst, ausgestattet mit dem sprechenden Nachnamen Raison, entwickelt schließlich – angesichts seiner zunehmend existenziellen Situation – Sympathien für Kirche und Glauben in unserem nur scheinbar entzauberten Zeitalter. Vernunft und Glaube, Aufklärung und Irrationalismus sind die Koordinaten des Spannungsfeldes, innerhalb dessen Houellebecq seinen Roman entstehen lässt. Es ist kein purer Ideenroman geworden, dem Autor gelingt es auf 600 Seiten abstrakte Theorie in lebendige Charaktere und glaubhafte zwischenmenschliche Konflikte zu übersetzen. Es geht um eine gefährliche Leerstelle, die Aufklärung und Vernunft hinterlassen – um ihr Unvermögen, dem Menschen ein tröstliches Sinnversprechen zu unterbreiten. Angesichts der Faktizität unseres stets drohenden Todes ein schmerzliches Versäumnis. Es ist Houellebecqs Hauptfigur selbst, die schließlich von Krankheit heimgesucht wird. Trotz seiner Berührungspunkte mit dem Phänomen des menschlichen Glaubens wird Paul sein Seelenheil nicht in der Hinwendung zu einem jenseitigen Erlösungsversprechen finden, sondern – und das ist tatsächlich neu im Werk des oftmals zynisch erscheinenden Autors – in Form menschlicher Güte. Die erfährt Paul vor allem vonseiten der weiblichen Charaktere. Besonders von seiner Gattin Prudence. Für Paul erscheint in der Wiederannäherung an seine Ehefrau tatsächlich die Möglichkeit des Glücks auf. So kurz es auch sein mag. Michel Houellebecq gelingt mit »Vernichten« auch ein großer Roman vom Abschiednehmen. Ein Roman, der sich bisweilen sogar wie ein Abschied des Autors von seinen Lesern anfühlt. ||

MICHEL HOUELLEBECQ: VERNICHTEN
Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek
Dumont, 2022 | 624 Seiten | 28 Euro

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