Zum 100. Geburtstag des großen Gebrauchgrafikers und genialen Covergestalters Celestino Piatti.
Celestino Piatti
Vom Beruf besessen
»Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.« Wenige Romananfänge haben sich so in mein Gedächtnis eingeschrieben wie der erste Satz in Heinrich Manns »Untertan«. Ob’s am Elternhaus, an meinen Lehrkräften, einer persönlichen Disposition oder an alledem lag: Ich zähle mich zu den Glücklichen, denen der Deutschunterricht die Tür zur Literatur weit aufgestoßen hat. Einmal hindurchgeschlüpft, gab es kein Zurück. Eng verknüpft mit meinem (Schul-) Lektüreerlebnis mit dem »Untertan« ist dessen Coverabbildung: eine uniformierte Autoritätsperson hoch zu Ross, rechts dahinter eine kleine, sich tief verneigende Gestalt – der Inbegriff des Duckmäusers. »So muss das gemacht werden: klare, schwarze Buchstaben, rechtsbündig, auf einem weißen Hintergrund, darunter eine Illustration« – kurz und knapp stellte der Schweizer Maler und Grafiker Celestino Piatti Anfang der 1960er dem Deutschen Taschenbuch Verlag sein Gestaltungskonzept vor. »Und so wurde es dann dreißig Jahre lang gemacht«, erinnert sich Piatti 1997. »Da bin ich schon ein bisschen stolz drauf.«
Ich bin ein bisschen stolz drauf, wie viele der von ihm gestalteten dtv-Bücher mich bis heute begleiten, ob Bölls »Ansichten eines Clowns«, Doderers »Strudlhofstiege«, Grafs »Wir sind Gefangene«, Kästners »Lyrische Hausapotheke«, »Fabian« oder Steinbecks »Jenseits von Eden«. Über 6000 Buchumschläge hat Piatti für dtv entworfen – und damit nicht nur »erschwingliche Designklassiker« geschaffen, wie Jens Müller resümiert: Neben der Optik ging es auch darum, so der Corporate-Design-Professor, »mit dem Medium Taschenbuch Hürden abzubauen, um neue Zielgruppen für anspruchsvolle Texte zu erreichen«.
Anlässlich Piattis 100. Geburtstag am 5. Januar 2022 erscheint ein Jubiläumskatalog, der die dtv-Erfolgsgeschichte in Wort und Bild dokumentiert und zugleich das Œuvre eines von seinem Beruf besessenen Ausnahmekünstlers präsentiert und kommentiert. Piatti entwarf Theater-, Messe- sowie politische Plakate. Er machte sozial engagierte Plakatkunst, Werbung für Campari, Bier und Zigaretten, kreierte Briefmarken, schuf Lesefibeln und Erstlesebücher, mit denen Generationen von Schweizer Kindern das Lesen lernten und im besten Fall für sich entdeckten. Piatti sei »im Wesensgrund ein großer Erzähler«, sagte die einflussreiche Schweizer Kunstkritikerin Annemarie Monteil. Beim Blick auf die vor mir aufgereihten, leicht vergilbten dtvTitel erkenne ich: Dieser große Erzähler hat auch meine Leidenschaft für Literatur und Bücher geprägt. ||
Celestino Piatti, 5. Januar 1922 bis 17. Dezember 2007 | Von 1960 an gestaltete Celestino Piatti die Taschenbücher des dtv. Es war ungewöhnlich, einem einzelnen Grafiker die typografische Gesamtgestaltung eines Verlages zu überlassen. Piatti hat dem neu gegründeten Deutschen Taschenbuch Verlag ein Gesicht verliehen und wurde berühmt für die ungewöhnlichen, oft kongenialen Titelbilder auf weißem Grund. Heinrich Bölls »Irisches Tagebuch« war der erste von über 6300 Umschlägen. Doch sein Werk umfasst auch über 30 Briefmarken für die Schweizerische Post, Werbegrafik, politische Plakate, Kinderbücher, Skulpturen und freie Kunst.
100 JAHRE CELESTINO PIATTI
Literaturhaus München, Foyer, Saal und Stream | Sa, 22. Januar | ab 13 Uhr (Verkaufs-)Ausstellung mit Originalentwürfen und -druckvorlagen, Plakaten, Grafiken und Skulpturen, Filmausschnitten und Fotografien. Jede volle Stunde Rundgänge mit Barbara Piatti und Claudio Miozzari 19 Uhr | Gespräch mit Barbara Piatti, Claudio Miozzari, Jens Müller, Andreas Platthaus
Weitere Artikel zur Literatur gibt es in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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