Die neue Produktion von Léonard Engel konzentriert sich einzig auf ein Motiv – um die Erfahrung zu öffnen.

Léonard Engel: »Parotia«

Drehbewegungen

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»Parotia« von Léonard Engel, im Bild: Angelo Petracca | © Sebastian Kiener

Den letzten Wahnsinn zwischen Machtbewusstsein und Überschwang erreicht der schwarze Schwan Odile in den berühmten Fouettés am Ende des dritten Akts von »Schwanensee«. Fast zirkusartig klingt die Musik, die die Tänzerin auf der Bühne antreibt; werden es 16 Drehungen, werden es 32? Es ist wohl eine der berühmtesten Sequenzen des klassischen Balletts – und gleichzeitig eine ganz ursprüngliche Tanzbewegung, die hier natürlich hoch artifiziell ist. Drehungen aber gehören zum Tanz wie die Musik. Kleine Kinder drehen sich, wenn sie Musik hören, in der ägyptischen Kultur gibt es Drehtänze in Form des Tanoura, die Derwisch-Tänze der Sufis natürlich, die über Drehungen eine Trance erreichen wollen. Dirndldrahn in Tirol und Bayern oder einfach der Walzer, um zurück in den Westen zu kommen.

Léonard Engel, ehemaliger Solist am Bayerischen Staatsballett, widmet nun seine neue Choreografie »Parotia« genau dieser einen grundlegenden Bewegung: dem Drehen. »Wenn die Performer in dem Stück einmal mit dem Drehen angefangen haben, dann hören sie nicht mehr auf«, sagt Engel über sein Stück. Ein Stück übers Drehen also, in dem zunächst auch nichts anderes passiert als Drehen. Doch in dieser einfachen Ausgangslage liegen tiefgreifende Dinge. Für Engel sei es – obwohl seine Drehung-Technik von den Tanoura- und Sufi-Tänzen inspiriert sind – zunächst einmal wichtig, dass es hier nicht um das Erreichen eines Trance-Zustands geht. Alles in allem will er immer noch Bühnenkunst erschaffen. Und so wünsche er sich, trotz dieses Blicks nach Innen, den solche Drehtänze für die Ausführenden auch immer bereithalten, eine Verbindung der Performer nach Außen: »Wie verbindet man sich mit dem Raum? Mit dem Publikum?«, das seien Fragen gewesen, die er sich beim Choreografieren gestellt habe.

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»Parotia« von Léonard Engel, im Bild: Angelo Petracca | © Sebastian Kiener

Das beginnt schon beim Gesicht der Performer, das für das Publikum normalerweise ein erster Ankerpunkt sei. Beim Drehen aber verschwindet der. »Das Gesicht wird flackernd wahrgenommen«, erklärt Engel. Als Gegensatz dazu dienen ihm Kostüme von Josa Marx, weite Röcke wie die der Derwische, inspiriert von Loïe Fuller, die durch die Drehbewegung eine skulpturale, ja konstante und feststoffliche Anmutung bekommen. Bezugnehmend vielleicht auch auf Oskar Schlemmers »Triadisches Ballett« mit den feststofflich-starren Tutus und geometrischen Kostümformen, das Engel am Bayerischen Staatsballett kennengelernt und getanzt hat.

Ganz praktisch gesehen versetzt es die drei Tänzer Gizem Aksu, Lisa Stertz und Angelo Petracca aber natürlich in einen anderen, vielleicht etwas außerweltlichen Zustand, wenn sie sich über eine gewisse Zeit drehen (das Stück hat gerade eine Länge von etwa 45 Minuten). Schwindel sei kein Problem, meint Engel, seine Performer hätten alle Erfahrung mit Drehtänzen – der Körper gewöhne sich daran. Trotzdem: Man gerate in eine Art meditativen Zustand, sagt Engel. Freilich: »Die Tänzer sollen auch mit dem Publikum kommunizieren.« Engel erschafft hier für seine Tänzer und sein Publikum eine paradoxe Grundsituation: Die Innenschau der Tänzer durch die konstante Drehbewegung soll dennoch offen, kommunizierend, verständlich fürs Publikum werden. Das führt zu einem für Engel ganz generellem Thema. Er, der klassisch ausgebildete Balletttänzer, der sich vor fünf Jahren in die freie künstlerische Selbstständigkeit wagte, setzt sich gedanklich seitdem mit dem Verschwinden und der Sichtbarkeit von Körpern auseinander. Für ihn selber, fürs Publikum. Im klassischen Ballett habe er seinen Körper als verschwunden empfunden, weil die Form und Stilisierung des Körpers als Werkzeug so im Vordergrund steht. Beim Drehen hingehen verschwindet der Geist nach Innen – ermöglicht da aber vielleicht wiederum einen ganz tiefen Einblick in einen realen Körper, samt Gedanken, samt Widersprüchlichkeit.

Ganz einfach zeigt sich dieser Gegensatz anhand der Drehrichtung. Die meisten klassischen Tänzer haben eine Schokoladenseite und -richtung, also eine Seite, die sich natürlicher, leichter, besser anfühlt als die andere. Im klassischen Tanz war die bei Engel rechts. Die Drehrichtung der Derwische und im Tanoura aber ist links. »Um das Herz nach Außen zu öffnen«, erklärt Engel. Und: »Das fühlt sich gut an.« ||

LÉONARD ENGEL: PAROTIA
Schwere Reiter | Dachauer Str. 114
19. bis 21. November | 20 Uhr
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