Das Literaturfest München startet morgen! Auf der Bühne stehen auch Julia Franck und Edgar Selge mit ihren aktuellen Werken. Weitere Tipps und Termine finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zu Kiosk.

Literaturfest München: Julia Franck & Edgar Selge

Jugend ohne Nest

Julia Franck erzählt in »Welten auseinander« von der eigenen Kindheit. Ein Buch über Erinnerung und den Einfluss von Geschichte.

literaturfest münchen

Zehn Jahre ist es her, seit Julia Francks Roman »Rücken an Rücken« erschien. So lange, drei Versionen, ein paar Semester Medizinstudium und ein Praktikum im Botanischen Garten waren nötig, bevor nun ihr neues Buch herauskommt: »Welten auseinander«. In einem Interview in der »Frankfurter Rundschau« erklärt Franck diese lange Zeitspanne so: »Ich glaube, dass dieses Buch nicht diese zehn Jahre brauchte, aber es brauchte mein Älterwerden.« Denn Franck, die die Motive ihrer Romane schon immer aus ihrer Familiengeschichte zog, diese in Fiktion verwandelte, bleibt diesmal ganz bei sich selbst. Bei »dem Mädchen« Julia, bei ihrer eigenen Kindheit, ihrem Erwachsenwerden. Die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens sind es, die hier beschrieben werden.

Das »Älterwerden« brauchte es wohl insofern, als die Dinge, die hier erzählt werden, sehr persönlich sind, die Überwindung einer »Scham«, die das Mädchen seine Kindheit lang empfand. Denn die Geschichte der Familie Franck ist geprägt von Verlusten und Verlassensein, von vielen Aufbrüchen und kaum einem Ankommen. Im Prolog stellt sich Franck der schwierigen Frage der subjektiven Erinnerung: »Unsere Erfahrungen ändern uns und auch unser Verständnis. Oft liegen unsere Geschichten und unsere Sicht auf die Wirklichkeit Welten auseinander. Wir erinnern uns an Ereignisse und unsere nächsten Menschen vollkommen unterschiedlich.« Sie also erzählt, was sie erinnert. Mal in der Ich-Form, immer wieder aber schreibt sie »das Mädchen«. Vielleicht da, wo die eigene Geschichte ihr fremd geworden ist.

Dieses Mädchen nun, das sie selbst ist, wird in Ostberlin geboren. Die Mutter ist Schauspielerin, der Vater Regisseur. Die Schwangerschaft nicht eben beabsichtigt. Und so gibt es auch keine Familie im klassischen Sinne. Wenn die Mutter überfordert ist, werden die Zwillinge abgeschoben: zum Vater, zu Kindermädchen, ins Heim. Es ist oft der Fall. Später stellt die Mutter einen Ausreiseantrag aus der DDR, mit ihren inzwischen vier Mädchen landet sie in einem Notaufnahmelager, dann in einem Bauernhaus in Schleswig-Holstein. Die Mutter trauert ihrer Schauspielerkarriere nach, hortet Dinge und überlässt die Kinder sich selbst. Die Großmutter schickt Carepakete aus der DDR. Mit 13 zieht Julia aus, nach Westberlin zu einer befreundeten Familie. Ihren Vater trifft sie erst viel später wieder, als er bereits todkrank ist. Vieles zitiert Franck aus den Tagebüchern, die »das Mädchen« beinahe manisch schreibt. Den Anfang und das Ende widmet Franck Stephan, den sie kurz vor dem Abitur kennenlernt und der ihre große Liebe wird.

»Welten auseinander« zieht einen hinein in ein Leben, das so unglaublich klingt, dass es kaum erfunden sein kann. Die Motive von Flucht und Verlassenwerden ziehen sich durch die Generationen. »Die Welt, in die wir geworfen oder vielleicht: in die hinein wir verloren waren, empfing uns nicht mit einem Nest«, heißt es einmal. Dieses Buch, das kein »Roman« ist, ist ein mutiges und ehrliches. Eine persönliche Bestandsaufnahme, die aber immer abhängig ist von den historischen Entwicklungen dieses Landes. ||
ANNE FRITSCH

JULIA FRANCK: WELTEN AUSEINANDER
S.Fischer, 2021 | 368 Seiten | 23 Euro

22. November
LITERATURFEST MÜNCHEN: LESUNG MIT JULIA FRANCK
Literaturhaus, Saal | 20 Uhr
Eintritt: 12 Euro / 8 Euro // Streamticket: 5 Euro
Kombiticket mit der Lesung mit Sasha Marianna Salzmann um 18 Uhr: 20 Euro /12 Euro

 

Auf der Suche nach der verlorenen Kindheit

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Edgar Selge hat sein Debüt vorgelegt. Entstanden ist weder ein Roman noch ein Rückblick auf ein bewegtes Schauspielerleben. Sondern ein wundersam eigentümliches Buch, das seine vitale Spannkraft aus dem Kniff bezieht, dass der heute 73-Jährige seine Herforder Kindheit in den Fünfziger- und Sechzigerjahren noch einmal durch die Augen des jungen Edgar betrachtet. In einer fein dosierten Mischung aus Fakt und Fiktion erzählt dieser Naseweis im Präsens, was eine gewisse Unmittelbarkeit erzeugt. Zugleich reflektiert der Zwölfjährige das Treiben im elterlichen Haushalt, in dem nicht nur ständig Musik, sondern auch Gewalt in Form väterlicher Züchtigung und Übergriffigkeit in der Luft liegt – Reflexionen, die so niemals von einem Kind stammen können. Weshalb für »Hast du uns endlich gefunden« das gilt, was er über seine Proust-Lektüre denkt: »Man weiß nie genau, mit wem man es gerade zu tun hat, mit dem Kind selbst oder mit dem Erwachsenen, der sich an seine Kindheit erinnert.«

Dem vielschichtigen Buch, dessen schonungslose Offenheit berührt, ist nicht zufällig eine Sentenz aus Shakespeares »Lear«, gesprochen von Glosters Sohn Edgar, vorangestellt: »Sei willkomm’n, / Du körperlose Luft, die ich umarme!« Die körperlose Luft ist mutmaßlich eine Anspielung auf den »Löcher in die Luft« starrenden, mit sich selbst Zwiegespräche führenden »Träumer« Edgar Selge, der er als Kind war und nach eigenem Bekunden immer noch ist. Träume spielen in »Hast du uns endlich gefunden« eine ebenso wichtige Rolle wie die Traumfabrik Hollywood. Edgar lügt, betrügt und stiehlt, um sich in die Spätvorstellung zu flüchten, zu Charlton Heston, Kirk Douglas, James Dean. Kino, das bedeutet Freiheit. Dafür nimmt er auch Strafen auf sich, wobei es den Anschein hat, dass seine Lügerei nicht nur der Not gehorcht, sondern auch Übersprungshandlung ist. Zwar fürchtet er die Strafe des Vaters, dieses hochmusikalischen Gefängnisdirektors und ehemals überzeugten Nazis, der nach dem Krieg unfähig ist zu trauern. Nicht selten jedoch führt »der kleine Zündler« seine Bestrafung fast willentlich herbei. Es steckt einiges an Masochismus in seinem Verhalten, mehr noch aber der Wunsch, vom Vater beachtet zu werden. »Er hat mich wieder übersehen«, heißt es einmal lapidar.

Edgar Selge ist in seiner bemerkenswerten Autofiktion auf der Suche nach der verlorenen Kindheit, um sie womöglich endlich loslassen zu können. Ebenso ist er auf der Suche nach den verlorenen Brüdern, denen sie auch gewidmet ist. Sie waren einmal zu fünft, zwei jedoch starben früh. Rainer beim Spielen mit einer Handgranate, als Edgar anderthalb Jahre alt war. Andreas, der Jüngste, mit 19 Jahren an einer Nierenerkrankung: »Ich suche nach meiner Bereitschaft, deinen Verlust zu fühlen.« ||
FLORIAN WELLE

EDGAR SELGE: HAST DU UNS ENDLICH GEFUNDEN
Rowohlt, 2021 | 304 Seiten | 24 Euro

23. November
LITERATURFEST MÜNCHEN: EIN ABEND MIT EDGAR SELGE
Münchner Kammerspiele | 20 Uhr | Moderation: Sabine Dultz | Eintritt: 15 Euro / 8 Euro

Hier die Rezensionen zu den Büchern von Lukas Rietzschel und Antje Rávik Strubel.

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