Und da ist es wieder, live und in der gewohnten Jahreszeit, das Literaturfest München. Vom 17. November bis 5. Dezember finden Lesungen,
Ausstellungen und ein Symposion statt sowie die große Bücherschau im Gasteig, bevor dieser endgültig für die Renovierung geschlossen wird.
Literaturfest München: Lukas Rietzschel & Antje Rávik Strubel
Eingeschriebene Wunden
In »Raumfahrer« kehrt Lukas Rietzschel zurück in die Oberlausitz. Es geht um eine verschwiegene Vergangenheit und um die Kunst von Georg Baselitz.
2016 präsentierte das Städel Museum in Frankfurt Georg Baselitz’ Werkgruppe der »Helden« oder auch »Neuen Typen«. Mit rund 70 Gemälden und Arbeiten auf Papier war diese seit ihrer Entstehung 50 Jahre zuvor erstmals fast vollständig zu sehen. Man habe sich gegen eine Retrospektive und für einen Kernpunkt im Werk des Künstlers entschieden, sagt Kurator Max Hollein im Ausstellungsvideo. Mit der Rückkehr der vom Krieg versehrten Gestalten habe Baselitz einen wunden und wichtigen Punkt in der jungen, aufstrebenden Bundesrepublik getroffen.
Einen wunden Punkt symbolisieren die »Heldenbilder« auch in Lukas Rietzschels zweitem Roman »Raumfahrer«. 1994 geboren, erregte er schon 2018 mit seinem Debüt Aufsehen. »Mit der Faust in die Welt schlagen« erzählt von der Radikalisierung eines Brüderpaars in dem fiktiven Dorf Neschwitz in der Oberlausitz. Nun kehrt der Autor dorthin zurück; wobei er diesmal Klarnamen verwendet – sowohl für die Orte als auch für einige zentrale Figuren in seinem dezidiert als »Werk der Fiktion« bezeichneten Roman. Dieser spielt in der Kreisstadt Kamenz, zu der die einst eigenständige Gemeinde Deutschbaselitz gehört. Dort wachsen in den 1950ern Hans-Georg und Günter Kern auf. Während Ersterer zum Kunststudium nach Ost-, dann nach Westberlin geht und als Georg Baselitz weltberühmt wird, bleibt der fünf Jahre Jüngere sein Leben lang in Kamenz: Günter wird Fahrschullehrer, heiratet und hat einen Sohn.
Warum das Leben der Brüder so ungleich verläuft, erkundet einer von zwei Erzählsträngen in diesem schmalen, doch sehr ambitioniert gebauten dichten Roman. Die Verbindung zur zweiten Erzählebene in der Gegenwart bildet Günters Sohn Thorsten. Mittlerweile um die 60, übergibt er Jan, den er von der Physiotherapie aus dem Krankenhaus kennt, einen Schuhkarton mit Dokumenten, Briefen, Fotos. Schnell zeichnet sich ab, dass Günter Kerns Schicksal – und damit auch das seines Sohnes – mit dem von Jans Eltern verknüpft ist. Doch Jans Mutter starb nach der Scheidung an Alkohol, und der frühpensionierte Vater, mit dem Jan in einem Haus am Stadtrand lebt, gibt keine Antworten. Also beginnt der 1989 geborene Sohn selbst zu forschen. Er sucht in Deutschbaselitz vergeblich nach dem Baselitz-Weg und blickt ratlos auf die »Heldenbilder« in den Katalogen. Erst nach schmerzhaften persönlichen Entdeckungen erkennt er in Baselitz’ Helden die Ähnlichkeiten zu den heutigen Männern von Kamenz – und dass die schweigsame Generation seines Vaters ähnlich versehrt ist, wie es ihre Väter einst waren: »Jan war in einer anderen Zeit geboren und in einem anderen Deutschland. Aber vielleicht gab es Parallelen, die sich in dem Wort ›Danach‹ verbargen. Nachkriegszeit, Nachwendezeit.«
So bildet »Raumfahrer« fast eine Art Ergänzung zu Rietzschels Debüt, das immer wieder als »Erklär-Roman« des Ostens (miss-) verstanden wurde. Er zeigt, dass sich nicht jeder, der sich abgehängt fühlt oder in Sprachlosigkeit aufwächst, zwangsläufig radikalisiert. Wunden tragen sie auch davon. ||
TINA RAUSCH
LUKAS RIETZSCHEL: RAUMFAHRER
dtv, 2021 | 288 Seiten | 22 Euro
28. November
LITERATURFEST: LESUNG MIT LUKAS RIETZSCHEL
Black Box, Gasteig | 19 Uhr | Moderation: Linda Becker | Eintritt: 15 Euro / 13 Euro
Die andere Seite
Antje Rávik Strubel verschränkt in ihrem neuen Roman gekonnt die Themen sexualisierte Gewalt gegen Frauen und herablassender Umgang des Westens mit dem Osten. Dafür wurde sie mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Unterführungen haben immer etwas Dunkles, Geheimnisvolles, Beängstigendes. Gleichzeitig trennen und verbinden sie weit entfernt voneinander Liegendes. Eine Unterführung im Hafen von Helsinki ist in »Blaue Frau« von Antje Rávik Strubel einer der zentralen Schauplätze und gleichzeitig Sinnbild für das, was der mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman verhandelt: das Machtverhältnis von Mann und Frau vor dem Hintergrund des hierarchischen Gefälles zwischen West- und Osteuropa, West- und Ostdeutschland. »Die Unterführung«, heißt es, »wird zu einem magischen Gang. Sie wird mit Bedeutung total überfrachtet«.
Im Mittelpunkt des komplexen Buches, das 2006 spielt, steht Adina. Die Tschechin, Nachfahrin eines Partisanen, kommt 21-jährig nach Deutschland, wird dort in einem Kulturhaus an der Oder von einem alten Kulturmanager mit dem sprechenden Namen Bengel brutal vergewaltigt und strandet schließlich in Helsinki, »der Schnittstelle« zwischen Ost und West. Sie geht mit dem estnischen EU-Diplomaten Leonides ein Verhältnis ein, doch das Trauma lässt sie nicht los. Ständig kämpft sie darum sich »zu ordnen«, weil »manchmal alles durcheinander« ist. Aus dem fortwährenden Kippeln Adinas wird in dem Moment ein Kippen, als sie Bengels markantes Räuspern auf einem Empfang wieder hört: Ab da sinnt sie auf Vergeltung, James F. Coopers »Der letzte Mohikaner«, ihr selbstgewähltes Alter Ego seit einsamen Kindertagen vor dem Computer, bricht sich immer stärker Bahn, Messer in der Hand.
»Schriftsteller liefern immer jemanden ans Messer«, zitiert Rávik Strubel Joan Didion. Literaturanspielungen gibt es viele in dem aus vier Teilen bestehenden Roman. »Blaue Frau« ist unbedingt auch als poetisches Selbstgespräch der Autorin zu lesen. Das Blau im Titel spielt auf die Tinte, das Messer Adinas auf die Schreibfeder an. Der titelgebenden blauen Frau begegnen wir Leser immer am Hafen, in Passagen, die von der eigentlichen Handlung mit ihren bedrückenden »Dunkelstellen« abgerückt sind. Auch sprachlich stehen sie für sich, sind der Lyrik nicht selten näher als der Prosa: »Wenn die blaue Frau auftaucht, muss die Erzählung innehalten.« So behält die Frau ihre mysteriöse Unschärfe, man kann nur erahnen, wer mit ihr gemeint ist. Sicher ist nur: Erst gegen Ende möchte sie auf die andere Seite und durchquert in diesem wahrhaftigen, wohldurchdachten, hochpolitischen und, ja das auch, spannend zu lesenden Roman deshalb zum ersten Mal die Unterführung. ||
FLORIAN WELLE
ANTJE RÁVIK STRUBEL: BLAUE FRAU
S.Fischer, 2021 | 432 Seiten | 24 Euro
1. Dezember
LITERATURFEST: LESUNG MIT ANTJE RÁVIK STRUBEL
Literaturhaus, Saal & Stream | 20 Uhr
Moderation: Gabriele von Arnim | Eintritt: 15 Euro / 8 Euro // 5 Euro (Stream)
Weitere Artikel und Empfehlungen zum Literaturfest München finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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