Im Bildungswesen werden seit Jahrzehnten Mängel verwaltet. Behandelt werden nur die Symptome, während die Wurzeln verfaulen. Auch diejenigen, die über Weh und Wohl der Gesellschaft entscheiden, haben dieses Bildungssystem durchlaufen. Wären wir nicht alle zukunftsfähiger, wenn wir in der Schule lernen würden, was wirklich wesentlich ist? Wir nutzen die Ferien, um über ihre Zukunft nachzudenken.

Das Bildungssystem und seine Fehler: Ein Kommentar

Glückliche Schüler: Ein weißer Fleck auf der politischen Agenda

In den letzten eineinhalb Jahren wurde viel Geld mit wenig Plan ausgeschüttet: vor allem als Kurzarbeitergeld oder als Hilfen für »systemrelevante« Branchen wie Fluggesellschaften und die Deutsche Bahn oder zur Beruhigung auch für Künstler, Veranstalter und Gastronomen. Das Bundesfinanzministerium verkündet stolz: »Mit ihrem Maßnahmenpaket von historischem Ausmaß sorgt die Bundesregierung dafür, die Gesundheit der Bürger zu schützen, Arbeitsplätze und Unternehmen zu stützen und unseren sozialen Zusammenhalt zu bewahren.« Das Ausmaß ist tatsächlich historisch einmalig: »Der Umfang der haushaltswirksamen Maßnahmen beträgt insgesamt 353,3 Milliarden Euro und der Umfang der Garantien insgesamt 819,7 Milliarden Euro.«

Dieser Schuldenberg muss wieder abgebaut werden. Die bereits jetzt geplanten Einsparungen treffen vor allem die Bereiche Kultur, Bildung und Soziales. Dieser Schuss wird mittelund langfristig nach hinten losgehen. Was jetzt nicht grundsätzlich und nachhaltig, angepasst an den Bedarf der nächsten Generationen, verändert wird, wird sich irreversibel rächen – so, wie wir es mittlerweile in der Klimakrise erleben. Nach uns die Sintflut? Das ist keine Option. Die altväter- und mütterliche Reaktion auf die junge, vielversprechende und inzwischen pandemiebedingt weitgehend verstummte »Fridays for Future«-Bewegung zeigt die Angst der Mächtigen vor einer zeitnahen, spürbaren und folgenreichen Veränderung. Der Wille zum Wandel fehlt.

Damit in naher Zukunft mehr Menschen am Start sind, die sinnvolle Entscheidungen treffen können, nicht nur ihren eigenen Vorteil im Sinn haben, in der Lage sind, über ihren eigenen Tellerrand hinauszublicken und ernsthaft und mutig Verantwortung zu übernehmen, muss das Bildungssystem massiv verändert werden. Corona brachte es ans Licht: Homeschooling und Wechselunterricht sind nur die Spitze des Eisbergs einer viel zu lange verschleppten Modernisierung der Schulen. Was den Kindern und Jugendlichen an individuellen Entwicklungsmöglichkeiten in der Gruppe, unter Freunden, in Gemeinschaft verwehrt wurde, wird der Gesellschaft möglicherweise demnächst als Zeitbombe um die Ohren fliegen. Da schafft es auch kein Vertrauen, wenn Bildungsminister Piazolo milde erklärt, der bayerische Abiturschnitt in diesem Jahr sei mit 2,14 der beste jemals. Es geht nicht um einen Notendurchschnitt. Es geht um viel mehr. Es geht um den Lehrplan, um die Qualifikation der Lehrer, um einen echten Wertewandel im Bereich der pädagogischen Kreativität.

Die ständigen Maßnahmen an der Oberfläche ändern nichts daran, dass die Wurzeln faulen. Fragt man sich, warum nur an den auffälligsten Symptomen ein wenig poliert wird, muss man sich auch fragen, welch Geistes Kind die Damen und Herren sind, die über das Wohl vieler Tausender Schüler und Schülerinnen entscheiden. Welche Bildung haben sie erhalten? Wie viele von ihnen haben gelernt, dass man keine Angst vor Eigenverantwortlichkeit haben muss? Sind sie dafür ausgebildet worden, sich in Frage zu stellen und ausgehend davon Zusammenhänge neu zu denken? Pragmatisch, flexibel und nachhaltig im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft zu gestalten, zu handeln? Denn das ist es doch, was ein Bildungssystem leisten sollte. Axel Fischer, Geschäftsführer der München-Klink, sagte kürzlich über die Corona-Maßnahmen: »Man hätte kreativer und näher bei den Menschen sein müssen« (»SZ«, 24.7.). Das gilt nicht nur für die Dauerbelastung von Klinikpersonal, sondern fängt im Bildungssystem an. Private Initiativen wie die der Montag-Stiftungen, Vorschläge zur Verbesserung des Schulsystems zu entwickeln, sind leider ein Tropfen auf den heißen Stein: Fünf (nicht 5000) Klassen durften bundesweit zuletzt an der Aktion teilnehmen. Symptomatisch für eines von so vielen behaupteten »Partizipations«-Projekten – hübsche Geste, null Effekt.

Abschied vom konservativen Bildungsumfeld

Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), hat die Bildungsstudie Pisa konzipiert und umgesetzt. Seine Kommentierungen der Pisa-Ergebnisse in Deutschland waren bereits 2010 so vernichtend, dass die CDU drohte, aus der Studie auszutreten. In der »Süddeutschen Zeitung« sagte er im Mai dieses Jahres: »Die Anforderungen an moderne Bildung haben sich radikal gewandelt, aber das Bildungssystem hinken dieser Entwicklung oft hinterher.« Nicht allein die Schwierigkeiten der Corona-Pandemie, die Organisation von Distanz- und Onlineunterricht, fordern das System heraus, sondern auch die rasanten Entwicklungen in der Arbeitswelt. Weil Maschinen immer öfter die Arbeit von Menschen ersetzen können, müsse es darum gehen, sich auf Fähigkeiten zu konzentrieren, die sich nicht digitalisieren lassen. Das in Deutschland vorherrschende »konservative Bildungsumfeld«, wie Schleicher es nennt, steht der zeitgemäßen Wissensvermittlung im Weg. Wenn die mangelnde Bereitschaft vieler Lehrkräfte, Alternativen zum Frontalunterricht zu entwickeln, auf die nicht funktionierende technische Ausstattung prallt, ist klar, was passiert: nichts außer Frust auf allen Seiten. Es ist aber bei Weitem nicht nur der Mangel an technischer Ausstattung, der verhindert, dass Menschen in den Schulen ausgebildet werden, die in der Lage sind, eine Gesellschaft positiv zu gestalten. Dass die meisten Schüler mit ihrem Abschlusszeugnis in der Hand, egal ob Mittlere Reife, Abitur oder Quali, glücklich sind, dass ihre Schulzeit endlich zu Ende ist, ist eigentlich todtraurig.

Denn sollte die Schule nicht eine Phase im Leben sein, die so gewinnbringend, erfüllend und beglückend ist, dass man sie als in jeder Hinsicht bereichernd erlebt? Viel zu oft ist das Gegenteil der Fall: Die Schulzeit ist für viele Kinder und Jugendliche eine Zeit der Ohnmacht, der Bauchschmerzen, der Demütigungen. Die Praxen der Jugendpsychiatrien führten Wartelisten auch schon lange vor Corona. Wie wunderbar wäre es stattdessen, wenn die Schule nicht nur in Ausnahmen ein Ort wäre, an dem man lernt, ungeahnte Fähigkeiten zu entwickeln? Wo fantasievolle, erfinderische, lustvolle und grenzenlose Denker heranwachsen, damit sie anschließend kreative, unerschrockene und engagierte MacherInnen werden. Das setzt voraus, dass Lehrer und Lehrerinnen nicht viel zu oft nur die schlechten Vermittler unzeitgemäßer Lehrpläne sind, sondern aufmerksame, empathische Förderer, die flexibel agieren können, auch wenn es dafür manchmal unkonventionelle und mutige, vor allem aber unbürokratische Wege braucht.

Würde die humanistische, also die zutiefst menschliche Seite der Bildung viel stärker berücksichtigt, könnten die Schüler und Schülerinnen lernen, über die einzelnen Fächer hinaus in Zusammenhängen zu denken. Wer differenziert zu denken gelernt hat, verroh nicht so leicht, nicht im Internet und in den »sozialen« Medien, und nicht im analogen Umgang mit anderen Menschen. Wenn Schüler grundsätzlich das Glück hätten, sich von ihren Lehrern aufrichtig wertgeschätzt zu fühlen, in ihrer Individualität erkannt und mit Geduld und gut ausgebildet in allen Stärken gefördert zu werden, dann sähe unsere Gesellschaft anders aus. Eine Reform des Bildungssystems ist zwingend nötig, und zwar in allen Bereichen. Was man diskutieren könnte:

Lehrpläne entrümpeln und ergänzen

Noch immer wird an bayerischen Gymnasien ein Lehrplan durchgezogen, der in vielen Punkten seit 35 Jahren unverändert ist. Der Schwenk von G9 auf G8 hat lediglich dazu geführt, dass man Mathematik nicht mehr in der Oberstufe abwählen kann, dafür aber zahlreiche musische Angebote einfach eliminiert wurden. Will man die individuellen Stärken von Schülern und Schülerinnen fördern, muss man den Lehrplan komplett neu denken. Man muss Zugangsbedingungen auf weiterführende Schulen neu definieren und man sollte auch die allgemeine Hochschulreife in Frage stellen: Hochschulreife ja, aber warum eine allgemeine für alle? Wenn jemand Mathematik studieren will, muss er kein Lateinexperte sein. Umgekehrt natürlich genauso.

Lehrer zu Trainern machen

Wer Lehramt fürs Gymnasium studiert, lernt nicht, wie man Schüler unterrichtet. Das sollen die Studierenden im Referendariat lernen – wo sie nicht selten schon durch die Hölle gehen. Damit ein junger Lehrer nicht gleich von Anfang an verschlissen wird und beginnt, sich und am Ende auch die Schüler zu quälen, muss die Lehrerausbildung komplett neu gedacht werden. Lehrer müssen teamfähige Coaches sein, Motivatoren, die Wissen interdisziplinär bündeln und interessant moderieren können. Langweilige Lehrer sind nicht mehr zeitgemäß. Hervorragende Experten, die Spezialwissen erklären können, findet man zuhauf in YouTube-Tutorials.

Ende des Beamtentums

Wer verbeamtet ist, darf sich in größtmöglicher Sicherheit wiegen: gutes Gehalt, gute Rente, nach ein paar Jahren unkündbar. Für so manchen ein Freibrief, sich auch geistig nicht mehr bewegen zu müssen. Wenn das Lehramt nicht zum Schmoren im eigenen Saft verführen soll, muss man darüber nachdenken, ob man es vom Beamtentum trennt und stattdessen die künftigen Lehrer und Lehrerinnen dazu motiviert, sich (selbst-) kritisch auf neue Inhalte und Unterrichtsformen einzulassen.

Werte erleben, nicht behaupten

Die Schule ist neben der Familie die Basis der Gesellschaft. Einfach zum wiederholten Male das Jahresmotto »Respekt« auszugeben, reicht nicht. Werte vermitteln sich durch Vorbilder, nicht durch vertikale Machtdemonstrationen. Die Schule ist Kulturvermittlung. Also muss mehr interdisziplinäre Sicht ins Spiel. Was selbst gemacht und erlebt wird, bleibt nachhaltig nicht nur in den Köpfen. Wo diese Aspekte berücksichtigt werden, verbessert sich sofort das Vertrauensverhältnis unter den Schülern, ebenso zwischen Schülern und Lehrern: Grundvoraussetzung, um etwas zu lernen. Mindestens den halben Tag verbringen Kinder und Jugendliche im Schulgebäude: Was läge also näher, dass sie das Haus als »ihr« Haus wahrnehmen, von der Gestaltung über die Pflege bis hin zur Modernisierung? Warum wird nicht gemeinsam mit den Schülern ausgearbeitet, was gebraucht wird, von Internetzugängen und der Mitarbeit in der Mensa über die Hygiene bis zur Lüftung? Traurig wird es, wenn man von Fällen wie zuletzt am Münchner Michaeli-Gymnasium liest: Dort hatten Lehrer und Schüler gemeinsam während der Pandemie ein funktionierendes Lüftungssystem entwickelt, realisiert und im Klassenzimmer eingebaut. Statt die Erfinder und ihre Mentoren in den höchsten Tönen zu loben, wurde die Lüftung von der übergeordneten Verwaltung aus nicht nachvollziehbaren Gründen nicht genehmigt. Eine amtlich genehmigte Lüftung gab es bis Schuljahresende aber auch nicht.

Mehr Platz für alle

Die meisten Räume in einem Schulhaus werden nur halbtags genutzt. In den Ferien, also etwa 13 Wochen im Jahr, stehen die Räume durchgehend leer. Gleichzeitig klagen alle, die an der Lehre beteiligt sind, über zu große Klassen. Warum wird nicht in Schicht vormittags und nachmittags unterrichtet? Dann müssten die Schüler nicht zu eng nebeneinander sitzen, die Lehrer könnten sich jedem intensiver widmen, die Aufmerksamkeit wäre vielleicht höher. Man bräuchte doppelt so viele Lehrkräfte. Aber dafür wären die Lehrer nicht so schnell mit ihren Nerven am Ende. Es gäbe mehr Erfolgserlebnisse für alle: Grundvoraussetzung für nachhaltiges Lehren und Lernen.

Man muss nicht alles selber erfinden als Direktor oder als Lehrer, wie man an den oben genannten Beispielen sehen kann. Es reicht schon, wenn man die Angebote nutzt, die es gibt. Diese »Nebengleise« im Rahmen des »normalen« Schulsystems treiben nicht den Wettbewerb und die Konkurrenz unter den Schülern an, sondern fördern Kreativität, Teamgeist, Kommunikationsfähigkeit und gegenseitigen Respekt. Genau davon träumen Schulleiter, Lehrer und Eltern. Warum werden dann aus den Seitengassen nicht endlich Hauptverkehrsadern der Bildung? Damit endlich Bewegung in die föderale Verstopfung kommt: Lassen Sie uns zwischen der Ferienlektüre gemeinsam die Wahlprogramme studieren, bevor wir unsere Kreuzchen machen. ||

In der aktuellen Ausgabe finden Sie zusätzlich die positive Beispiele von Eva Marie Koblin (TheaterSpielhaus), Maria Knilli (Guten Morgen liebe Kinder), Simone Schulte-Aladag und Bettina Wagner-Bergelt (Tanz und Schule) und DOK.education. Hier geht es zum Kiosk.

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