Eine merkwürdige Geschichte von Puschkin hat Andrey Kaydanovskiy als Stoff für seinen ersten Abendfüller beim Bayerischen Staatsballett gewählt. Ein Porträt des jungen Hauschoreografen.

Andrey Kaydanovskiy: »Der Schneesturm«

Die Pläne und das Leben

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Andrey Kaydanovskiy | © S. Schramke

Gegen den elterlichen Willen verabreden sich die jungen Liebenden Maria und Vladmir zur Trauung. Durch einen Schneesturm verspätet sich der Bräutigam. Ein anderer Mann, verzaubert von Marias Schönheit, springt ein – was die erschöpfte Braut in der dunklen Kirche erst nach dem Eheversprechen bemerkt. Maria erkrankt schwer. Vladimir stirbt in der Armee. Vier Jahre Jahre später treffen sich die beiden irrtümlich Getrauten wieder, ohne sich zunächst zu erkennen. So, kurz zusammengefasst, Puschkins Novelle »Der Schneesturm« von 1831, die Andrey Kaydanovskiy vertanzt und am 17. April mit dem Bayerischen Staatsballett zur Uraufführung bringt: je nach Corona­-Lage im Münchner Nationaltheater vor Publikum oder als Live-­Stream.

Es ist eine unwahrscheinliche, eine verrätselte Geschichte, also genau das Genre für das merklich lustvolle Choreo­-Fabulieren des 34­jährigen gebürtigen Moskauers. Schon sein »Cecil Hotel« (2019 für München), eine Art Tanz­-Krimi über tatsächliche Mordfälle in dem berüchtigten Hotel in L.A., kitzelt den detektivischen Sinn des Zuschauers. »Es geht mir dabei gar nicht um einen Krimi«, wehrt Kaydanovskiy ab, »sondern um den Perspektivwechsel und das Spiel mit der Erwartungshaltung des Zuschauers … Ich habe meist eine Anfangsidee, die ich mit passenden Situationen drumherum ausbaue.« Womit sich Kaydanovskiy eindeutig als Erzähler charakterisiert: »Ja, ich erzähle gerne Geschichten, aber unmittelbar mit dem Körper, nicht über Wörter. Tanz spricht eine dichte, ehrliche Sprache und  kommuniziert auf einer emotionalen Ebene mit dem Zuschauer.« Im Gegensatz zum Sprechtheater, das ihn auch fasziniere, liefere die Schnelligkeit der tänzerischen Bewegung eine zusätzliche Dynamik. Und gerade mit dem lebendig­rapiden Szenen-­Ablauf und ­Wechsel hält uns »Cecil Hotel« in einer gewissen filmischen Spannung.

Kaydanovskiys Haltung zu den beiden Sparten Tanz und Schauspiel erklärt sich wohl aus seiner eigenen Geschichte: Sein Vater, 1995 mit 49 Jahren verstorben, war Filmschauspieler und -­regisseur, seine Mutter Tänzerin. Weil er ein unruhiges Kind gewesen sei, habe sie ihn zum Ballettunterricht geschickt. Und mehr noch: »Ich habe einen Teil meiner Kindheit im Bolschoi­-Theater hinter den Kulissen verbracht, bin so mit den großen Handlungsballetten aufgewachsen. Später habe ich mir in Moskau auch viel Sprechtheater angesehen und hatte da schon die Idee, dass sich Ballett und Schauspiel gegenseitig bereichern könnten.« Kaydanovskiy war erst neun, als sein Vater starb, zu jung, wie er sagt, um über dessen Arbeit zu diskutieren. Insgesamt herrschte aber selbstredend in seiner Familie eine mit Theater und Tanz vertraute Atmosphäre. »Ja«, gibt er zu, »ich versuche beim Choreografieren auch schauspielerisch zu arbeiten, versetze mich in die jeweilige Figur. Über ihre Emotionen entwickele ich dann die Bewegung.«

Kaydanovskiy hatte auch in der abwechslungsreichen Ausbildung die Chance zu vielfachen künstlerischen Anregungen: Von der Moskauer Bolschoi­-Akademie, wo er als 16­-Jähriger nicht dem Gardemaß entsprach, wechselte er an die Stuttgarter John-­Cranko-Schule. »Dort bin ich kurioserweise extrem gewachsen«, erzählt er. »Die Abschlussklassen habe ich schließlich an der Wiener Ballettakademie absolviert und wurde noch vor der Prü­fung ins Ballett der Wiener Staatsoper engagiert.« Seit 2007 tanzte er sich durch ein farbiges Repertoire. Parallel zu seinen Aufgaben als Demi-­Solist, ab 2017 als Solist, begann er zu choreografieren. Und das nicht nur für das Wiener Ensemble, sondern auch für das Tschechische Nationalballett, das Moskauer Bolschoi und das Moskauer Stanislawsky Theater. »Dort habe ich 2016 › Tea or Coffee? › kreiert, das zweimal für den russischen Theaterpreis Die goldene Maske nominiert wurde«, erfährt man von ihm. Ein Schicksalsmoment. Denn bei dieser Gelegenheit ist er auch Igor Zelensky begegnet, der just Ende 2016 vom Stanislawsky-­Theater zur Ballettchef-­Position in München wechselte.

2017 erlebte man Kaydanovskiy hierorts erstmals mit dem Stück »Discovery« im Rahmen der Staatsballettreihe »Junge Choreographen« im Prinzregententheater. 2020 ernannte ihn Igor Zelensky zum Hauschoreografen – was die Münchner Habitués schon überraschte. Man wusste hierorts ja wenig über diesen jungen Russen, der allerdings schon seit 2009 kompakte, vielfarbige choreografische Erfahrung hat: von Strawinskys »Feuervogel« bis zum Andersen­Märchen »Das häßliche Entlein«, von Arbeiten für das Hamburger Bundesjugendballett, für den extravaganten Star Sergei Polunin bis zu Balletteinlagen im Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Kaydanovskiy hat offensichtlich Stamina. »Ich spare mit Energien, indem ich die Themen, die mich interessieren, in meinen Stücken verarbeite«, bemerkt er mit einem Lachen. »Außerdem erfahre ich viel Unterstützung von meiner Partnerin.« Mit Rebecca Horner, Solistin im Wiener Staatsballett, hat er eine zehnjährige Tochter und fährt bei all seinen choreografischen Verpflichtungen so oft wie möglich nach Hause zur Familie.

»Der Schneesturm« ist nun sein erstes abendfüllendes Werk für das Bayerische Staatsballett, obendrein auch noch zu Auftragsmusik. Die Zusammenarbeit mit Lorenz Dangel scheint bestens zu funktionieren. Nach intensivem Studium, unter anderem an der Münchner Hochschule für Musik und Theater, komponiert der mehrfach ausgezeichnete Würzburger Filmmusik, klassische Konzertmusik und Musiktheater. Kaydanovskiy über ihre Kooperation: »Wir haben vor jeder Szene intensive Gespräche geführt, um die richtige Atmosphäre zu treffen. Mit seiner Erfahrung weiß Lorenz genau, wie man die richtigen Stimmungen erzeugt. Es ging uns immer darum, das selbe Bild im Kopf zu haben, um es dann gemeinsam in die richtige Richtung zu entwickeln.« Und was ist mit der merkwürdigen Puschkin­-Geschichte? Für Kaydanovskiy liegt die Bedeutung auf der Hand: »Puschkin äußert hier Kritik an der erwarteten Planbarkeit des Lebens. Der Schneesturm ist ein Symbol für das Leben, das sich eben nicht immer an unsere Pläne hält.« ||

ANDREY KAYDANOVSKIY / LORENZ DANGEL: »DER SCHNEESTURM«
Nationaltheater | Uraufführung 17. April 19.30–21.30 Uhr, Gratis-Livestream auf staatsoper.tv | danach (kostenpflichtig) | 23. April, 19.30 Uhr; 3., 6., 8. Mai, 19.30 Uhr

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