»Ausnahmezustand« – eine Graphic Novel über die Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft und weit mehr als das.
»Ausnahmezustand«: Fassungslos
War das nur geschicktes Marketing seitens des Verlags, dieses Buch als Highlight zu US-Wahl zu bewerben? Mit Donald Trump hat der Comicroman »Ausnahmezustand« des renommierten Zeichners James Sturm weniger zu tun, als erwartet. Klar, auf den ersten Blick sind da die Plakate zur Wahl 2016 am Straßenrand; da ist die kleine Tochter auf dem Autorücksitz, die streng guckt und ihren gestressten Dad mit der Frage »Wählst du jetzt Hillary oder nicht?« löchert; da ist der Kandidat mit dem irren Blick im TV-Duell, der lügt – weil er es kann.
Auf den zweiten Blick erzählt James Sturm dann aber vor allem eine berührende Trennungsgeschichte in melancholischen blaugrauen Bildern. Auf den dritten Blick wiederum, und den sollte man dieser ruhig erzählten, beeindruckenden Graphic Novel unbedingt gönnen, kehrt die Politik zurück. Nicht in aufrüttelnden, plakativen Bildern, nicht in politischen Appellen des Autors und Zeichners, sondern indem sich »Ausnahmezustand« Stunden und Tagen nach der Lektüre zu einer Art Seelenlandschaft einer rissigen und bröckelnden Gesellschaft zusammensetzt.
Sturms Hauptfigur Mark ist ein Mensch, dem offensichtlich der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Ein Mensch übrigens mit einem sanften hellen Hundegesicht und langen schwarzen Schlappohren – ein klassisches Comicstilmittel, das im Graphic-Novel-Bereich aber selten geworden ist. Lisa, die Liebe seines Lebens, hat sich nach sieben Jahren von Mark getrennt. Seinen neuen Alltag, die Tage mit den beiden Kindern, die Tage ohne die Absprachen mit Lisa, die verkrampfte Party bei gemeinsamen Freunden, den Job bei einem hochverschuldeten Bauunternehmer, selbst seinen eigenen nächtlichen Ausraster erlebt Mark wie unter einer Glasglocke.
Was in den großformatigen Bildern passiert, wird bildlich überlagert von Marks Gedanken, Erklärungen, Interpretationen. Sie nehmen das obere Viertel fast jedes Panels ein. Während er mit seinen Kindern durchs Wohnzimmer tobt und einen hungrig grollenden Riesen spielt, fällt ihm ein, wie er dasselbe früher mit seinem Bruder gespielt hat, und schon geht das Gedankenkino los: Sein Bruder – dessen Rat, er solle sich einen Anwalt nehmen – die anstehende Scheidung – Lisa. Den schönen Moment, den Spaß mit den Kindern lässt er nicht gelten, denn die Trauer hat immer Vorrang.
Eine ähnliche Fassungslosigkeit, wie sie Mark seit der Trennung erfasst hat, dieses Gefühl, plötzlich nur noch reagieren, nicht mehr agieren zu können, überkommt auch Marks demokratische Freunde nach der Wahlniederlage Clintons, nach dem Triumph des dumpfen rechten Populismus. Dieses Gefühl, mit einem Schlag in einer bis dato unvorstellbaren Lage zu sein, politisch und privat, weist über den kleinen Kreis der Comicfiguren hinaus. Sturm zeichnet eine Welt, der ihr Kompass verloren gegangen ist, in der richtig und falsch zu verschwimmen drohen.
Der 1965 geborene Autor, der mit Indie-Comics anfing und 2004 das Center for Cartoon Studies in Vermont gegründet hat, blickt nicht nur empathisch auf seinen Protagonisten, sondern auch ehrlicher, als dieser zu sich selbst sein kann. Sturm zeigt, wie sich Stream-of-Consciousness und Bildgeschehen widersprechen, wie Mark den Blick für andere verliert, für die Kinder, für Lisa, die mit Depressionen kämpft, für seine Mutter, die unbemerkt schwer erkrankt. Und dann, kurz vor Schluss, bricht Sturm plötzlich selbst aus der vorgezeichnet scheinenden Bahn aus. Zeichenstil und Schrift werden lockerer, die Gedanken offener. Ob der Hoffnungsschimmer nur Mark gilt oder auch der amerikanischen Gesellschaft, bleibt offen. ||
JAMES STURM: AUSNAHMEZUSTAND
Reprodukt Verlag 2020 | 216 Seiten | 24 Euro
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