Raiko Schwalbe trotzt der kulturellen Depression und setzt mit der 10. ARTMUC auf Solidarität.

ARTMUC 2020: Die Nerven behalten

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Raiko Schwalbe | © Marcus Schlaf

Seit zehn Jahren führt Raiko Schwalbe jedes Jahr in München zwei Kunstmessen durch, die vor allem eine Plattform für freie Künstler sind, die ARTMUC und die STROKE. Bei der ARTMUC können heuer etwa 75 Einzelkünstler aus den Bereichen Malerei, Fotografie und Bildhauerei/Skulptur sowie 20 Galerien und Institutionen neue Arbeiten präsentieren und sie direkt verkaufen, während die STROKE sich mehr dem Bereich Urban Art widmet. Beide Messen bieten gegenüber den großen Messen wie der Art Basel oder der Art Cologne und den bekannten Auktionshäusern auch unbekannteren Namen die Möglichkeit, Kunden zu erreichen. Die Kunden wiederum erwartet ein niederschwelliger Zugang zu den Künstlern, die ihre Stände jeweils selbst vertreten und jederzeit ansprechbar sind. Um ein durchgehend hohes Niveau zu garantieren, ist die Teilnahme kuratiert. Die Jury 2020 besteht aus Dörthe Bäumer, Anna Wondrak, Uta Römer und Anabel Roque Rodríguez. In diesem Jahr war alles anders. Wegen der Pandemie musste Raiko Schwalbe die Frühlingsmesse absagen. Das war bitter genug. Umso größer ist die Notwendigkeit, dass die ARTMUC jetzt wie geplant stattfinden kann. Am zweiten September-Wochenende, parallel zur Open Art der Münchner Galerien und Kunst-Institutionen, lief er sich auf der ARTMUC:restart zusammen mit Kunstliebhabern schon mal warm – mit dem größtmöglichen Erfolg. Wir haben Mitte September, als der Inzidenzwert in München wieder bei 56 lag, nachgefragt, wie Raiko Schwalbe die ARTMUC 2020 auf den Weg bringen will.

Mit welchen Hindernissen musst Du umgehen?
Schwalbe: Organisatorisch fahren wir komplett auf Risiko. Bei allen Veranstaltungen ist maximale Flexibilität vonnöten. Die Gefahr, dass man auf vielen Zehntausend Euro sitzen bleibt, ist sehr groß. Unser Hygienekonzept für die ARTMUC:restart war wasserdicht, aber wir wurden immer wieder darauf hingewiesen, dass wir ggf. alles hätten canceln müssten, wenn die Zahlen sich negativ geändert hätten. Den Behörden ist vielleicht nicht so klar, was das in der Praxis heißt und was für schlaflose Nächte das zur Folge hat. Wir haben vier Tage vor der Eröffnung der restart grünes Licht bekommen, was für die Organisatoren heißt: Am Tag des Aufbaus kam das Go. Das ist eigentlich Wahnsinn.

Was wäre das schlimmste Szenario im Oktober?
Wenn wir die ARTMUC im Oktober absagen müssen, würde ich ca. 40.000 Euro in den Sand setzen. Wir haben ein internationales Team, das macht die Sache ja nicht sicherer.

Rücken die Beteiligten zusammen oder zersplittern die Teams?
Wir müssen in der Szene einen gemeinsamen solidarischen Weg finden. Nur so haben wir die Absage der ARTMUC im Mai überlebt. Relativ früh habe ich mehrere Dutzend Dienstleister darüber informiert, dass alles wackelte. Ausfallhonorare konnten so zu 66 Prozent gezahlt werden, mit der Zusage, dass sie auf jeden Fall bei künftigen Events dabei sind. Das haben von 150 Beteiligten 148 mitgemacht. Der partnerschaftliche Umgang innerhalb des Teams ist so relevant wie nie.

Wie war auf der restart die Stimmung bei den Künstlern und bei den Besuchern?
Die Atmosphäre kann ich nur als mega happy, dass überhaupt was stattfindet, beschreiben. Die Leute waren echt ausgehungert. Die Künstler waren froh, dass sie wieder sichtbar waren. Und die Besucher waren neugierig und sehr entspannt. Die Leute wussten, dass sie sich sicher
fühlen konnten. Es gab ein paar Wartezeiten, die gelassen hingenommen wurden. Ansonsten hat sich alles gut verteilt.

Wieviele Besucher hatte die restart?
Wir hatten 1500 Gäste an drei Tagen. Das macht uns Mut und Hoffnung für den Oktober! Und es zeigt, dass die Marke ARTMUC funktioniert, und dass die Leute Lust auf Kunst haben. Als Messeveranstalter hängt alles von den Eintritten ab. Wenn wir bei der ARTMUC auf der Praterinsel etwa drei Viertel der Besucher von 2019 haben, also ungefähr 4500 Besucher, würde das bedeuten, dass unsere GmbH weiterbestehen kann. Ziel ist eine gute Null, es geht dieses Jahr nicht um Gewinn. Es geht darum, Flagge zu zeigen, präsent zu sein. Das spüren auch die Künstler und die Besucher, und das ist das allerwichtigste im Moment.

Ist das öffentliche Coronamanagement angemessen?
Nein. Warum Fußball Prioritäten genießt, auch der ÖPNV, erschließt sich mir nicht. Das lässt sich nur erklären, wenn man annimmt, dass diese Bereiche eine bessere Lobby als der Kultursektor haben. Kultur ist der zweitgrößte Wirtschaftsbereich im Land, wird aber behandelt, als wären die Künstler tumbe Bittsteller. Die Hilfsprogramme sind sehr fragwürdig aufgestellt. Die Politik verbreitet Panik, man muss ja nur die Schlagzeilen lesen und die Nachrichten hören. Natürlich muss man vorsichtig sein, aber doch bitte mit Augenmaß. Jeder Veranstalter hat inzwischen ein seriöses Hygienekonzept. Angst ist kein guter Ratgeber.

Wie gehen die Künstler damit um?
Die Künstler sind sehr froh, dass sie überhaupt wieder sichtbar werden. Es wurde auch wirklich gut verkauft, und das fördert eine Aufbruchstimmung. Die Besucher sind bereit, für Kunst Geld auszugeben. Die richten ihre Wohnungen neu ein und brauchen neue Bilder. Und das sind auch nicht nur kleine dekorative Sachen, sondern auch große und sehr experimentelle Varianten. Die Bereitschaft bei Besuchern und Künstlern ist sehr deutlich vorhanden, auch unter anderen Voraussetzungen mit dem Markt umzugehen.

Wie bereitest Du Dich auf den Oktober vor?
So flexibel wie möglich alle Kooperationen mit allen Beteiligten gestalten. Ausreichend Hygiene-Artikel kaufen. Ausreichend, also mehr, Personal einstellen. Die Nerven behalten.

Was empfiehlst Du den Politikern, die über Stop and Go entscheiden?
Nicht nur Fußball oder Lufthansa, sondern auch die Kulturbranche im Blick haben: Da hängen mehr Existenzen und Interessen dran als bei Ballspielen, bei denen sich die Spieler schwitzend aneinander festhalten. Nächstes Jahr sind Wahlen! Da sollten die Politiker jetzt mehr Mut beweisen und mehr Vertrauen in die Vernunftbegabung zivilisierter Kunstfreunde setzen. Veranstaltungen unterschiedlicher Art – Volksfest, private Hochzeitsfeier, Theaterbesuch, Kunstmesse – sollten nicht über einen Kamm geschert werden. Das führt nicht nur zu gesteigerter Verwirrung, sondern zu massiven Frustrationen. Und die öffnen abseitigen Theorien Tor und Tür. Die Maßnahmen müssen demokratisch und transparent entschieden werden, nicht als Hauruck und im Alleingang einzelner Politiker. ||

ARTMUC MESSE
Praterinsel | 22. bis 25. Oktober | Do: Vernissage 19 bis 22.30 Uhr | Fr/Sa: 12 bis 19 Uhr | So: 12 bis 18 Uhr | Tickets: Tageskasse und online

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