Schon vor Corona hat David Russo begonnen, an der Ballettakademie ein neues Lehrkonzept für klassischen Tanz zu entwickeln.

David Russo – Der beste Lehrer: Ich selbst

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David Nicolas Russo beim Unterricht | © Ida Zenna

Russo, der Rastlose. David Nicolas Russo ist ein im besten Sinne unruhig kreativer Geist. Das hat er in den Genen mitbekommen: Der Sohn einer weltneugierigen Mutter von den Philippinen und eines in Frankreich aufgewachsener Italieners landet in Deutschland – wird Tänzer, Choreograf und Tanzpädagoge. Im Telegrammstil: Ausbildung an der Stuttgarter John Cranko Schule, 1998 erstmals engagiert am Saarländischen Staatstheater, von 2000 bis 2010 am Münchner Gärtnerplatztheater, in den letzten beiden Jahren parallel ein Pädagogik-Diplom. Seit 2000 lehrt er an der Ballettakademie der Hochschule für Musik und Theater München (HMTM). Und da zieht er jetzt, durch die coronabedingten Veränderungen nochmals angetrieben, mit einer Energie und einem Tempo an, wie man es schon von dem Allegro-Tänzer Russo gewohnt war.

Sein Unterrichtspensum: täglich klassischer Tanz für seine Grundstufenjungs von zehn bis zwölf Jahren. Dazu ein bis drei Mal die Woche zeitgenössischer Tanz für alle Klassenstufen. Das macht insgesamt 23 Arbeitsstunden, in die allerdings ein neues pädagogisches Denken einfließt. Mechanisches Ausführen nach LehrerAnsage gehört für Russo der Vergangenheit an. Natürlich haben sich die Lehrmethoden der Ballettakademien seit dem 19. Jahrhundert durch fortschreitenden Wissensstand schon erheblich verändert. Was heute jedoch bei weltweiter Konkurrenz schon nicht mehr genügt. Für seine neuen förderlichen Ideen bekommt Russo aktuell Rückenwind: »Die Münchner Ballettakademie der HMTM ist sich der Notwendigkeit von Reformen bewusst und unterstützt meine Ansätze sehr. Geplant ist im neuen Semester die Veröffentlichung unseres vor Kurzem fertiggestellten pädagogischen Konzepts«, kann Russo vermelden.

Eine solche Aussage löst bei uns jetzt doch eine Reihe von Fragen aus: Welche Maßnahmen ergänzen schon jetzt den traditionellen Ballettunterricht mit seinem Stangen-Exercice, dem Adagio, den Pirouetten, kleinen und großen Sprüngen durch den Raum? »Dieses Grundmodell bleibt auch bei mir unverändert«, kommt schnell die Antwort. »In den unteren Klassen verwende ich aber auch eine gewisse Zeit für Improvisation und Körperwahrnehmungsübungen.« Solche fast schon meditativ anmutenden Übungen gehören auch ins Fach »Tanzspezifisches Köpertraining« im Bachelor-Studiengang. Russo beschreibt, was man sich darunter vorzustellen hat: »Das ist zum Beispiel eine Reise durch den Körper bei geschlossenen Augen, das Sichbewusstwerden von Haut, Muskeln, Sehnen, Knochen. Oder auch Reflexübungen mit Partnern, wo eine Berührung beim anderen eine weitere Bewegung bewirkt. Es geht letztlich darum, ein Verständnis für die biomechanischen Vorgänge im eigenen Körper zu entwickeln.« Das Lehrprogramm umfasst weitere, so gar nicht ballettnahe Ergänzungsstrategien, die man eher dem Sport zugerechnet hätte, nämlich reines Konditionstraining. »Kardiovaskuläre Anstrengungen zum Beispiel«, erklärt Russo, »wie Hüpfen am Platz für eine längere Zeitspanne, Seilspringen oder Intervalltraining. Bei dieser Trainingsform wechselt man zwischen extremer körperlicher Anstrengung wie Liegestützen oder großen Sprüngen aus der Hocke heraus und kleinen Ruhepausen und Dehnungsübungen.« Auch dazu gebe es Anleitungen, ergänzt Russo: »Welche Art von Dehnungen sind möglich? Wie dehnt man vor dem Training, wie danach? Die Studierenden sollen dazu ermutigt
werden, Möglichkeiten persönlicher metakognitiver Strategien für sich zu entdecken.« Das heißt, sie sollen sich gedanklich mit der eigenen Herangehens- und Arbeitsweise auseinandersetzen, auch mithilfe von Video-Ressourcen.

Videos wurden bereits zuvor zu Lernzwecken eingesetzt, allein schon als Erinnerungsstütze beim Einstudieren einer neuen Choreografie. Angestoßen offensichtlich durch das via Zoom ermöglichte Hometraining von Tanzensembles und Tanzstudios während des Corona-Lockdowns, werden nun mediale Mittel tatsächlich verstärkt in den Unterricht integriert. Russo erwähnt den Schlüsselbegriff »Blended Learning«, das die Vorteile von Präsenzveranstaltungen und E-Learning zu Hause kombiniert. Dazu der Pädagoge:»Das Hometraining war eine sehr anstrengende Geschichte. Und ich denke, wir sind alle sehr dankbar, dass wir wieder in den Ballettsaal zurück dürfen«, seufzt er erleichtert. »Was mich aber doch interessiert, sind die Möglichkeiten, die eine kluge Kombination von Selbststudium mithilfe digitaler Werkzeuge und Videos und Präsenzunterricht bieten. Außerdem können Einzelgespräche zu Feedback und Reflexion via Skype oder Zoom stattfinden. Und da ist dann eine gewisse Privatsphäre gewährleistet, die im Ballettsaal oft nicht gegeben ist.«

Ja, eine psychische aufbauende Begleitung, analog oder virtuell, sei ihm sehr wichtig. Während des Lockdowns habe er die überraschende Entdeckung gemacht, dass alle Lehrkräfte versuchten, die Kinder zu unterstützen. »Statt der bekannten, fast klischeehaften Strenge und rigorosen Haltung der Ballettausbildung waren da plötzlich Verständnis, Trost und Halt.« Zusammengefasst, strebt David Russo nun eine zukunftsweisende Koppelung an von technischer Innovation und darauf abgestimmten neuen pädagogischen Methoden, also einen deutlich auf autonomes Lernen setzenden Unterricht? Seine Antwort: »Ich bin selber ein engagierter Autodidakt, ich habe in meiner Laufbahn viele großartige Lehrer*innen gehabt, aber wie ich meinen Studierenden immer wieder sage: Der Lehrer, der mich am meisten begleitet, gefordert und mir geholfen hat, der bin ich selbst. Und das gilt für alle Lernenden.« ||

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