Das Brechtfestival in Augsburg hat mit Julian Warner einen neuen Leiter. Sein Spielplan ist zeitgemäß urban und interdisziplinär diskursiv.
Brechtfestival Augsburg 2023
Zwischen Brotladen und Boxring
»GLOBAL ANGST – Parlament, Parade, Ritual« hieß Julian Warners Projekt, das er im Herbst 2021 als Co-Kurator des Münchner Spielart-Festivals im öffentlichen Raum als »affektpolitische Intervention« platzierte. In einer künstlerischen Konferenz, mit einer Parade und einem Ritual behandelte er das Phänomen der weltumspannenden Verunsicherung. Eineinhalb Jahre später ist er – als »Fehler Kuti« Popmusiker und Performer, Kurator bei der Kultur-Region Stuttgart 2022, am Mousonturm, an den Münchner Kammerspielen und an denSophiensaelen in Berlin – für das Programm des Augsburger Brechtfestivals zuständig. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter arbeitete und lehrte er am Institut für Kulturanthropologie der Universität Göttingen und gab mit Elisa Liepsch den Sammelband »Allianzen — Kritische Praxis an weißen Institutionen« heraus. 2021 publizierte er »After Europe. Beiträge zur dekolonialen Kritik«. Augsburg bekommt zum 125. Geburtstag von Bert Brecht also ein Diskurs-Labor-Festival, das seiner Münchner Spielart-Schwester Konkurrenz macht.
Brechts Vorliebe für prozesshaftes, kollektives, genreübergreifendes Arbeiten, die Entwicklung des Epischen Theaters und die Lust am Verfremdungseffekt setzt Julian Warner in allen Programmpunkten um: »Wir widmen uns der Erforschung Brecht’scher Welten. Wir finden sie in den Nischen unserer Städte. Dort, wo die Kämpfe der Gegenwart stattfinden und die Grenzen von Ästhetik und Politik verschwimmen: Dort treffen wir auf Brecht’s People.« Deshalb ist Lechhausen, früheres Arbeiterviertel und heute der bevölkerungsreichste Stadtteil Augsburgs, der Mittelpunkt des diesjährigen Festivals. Das Konzept der Parade scheint ein Steckenpferd von Julian Warner zu sein: Mit einer solchen eröffnet er das Festival am 10. Februar, gewandert wird vom Goldenen Saal im Augsburger Rathaus nach Lechhausen. Beim abendlichen Festbankett mit Damian Rebgetz halten die Autoren Elisa Aseva, Fatma Aydemir und Aras Ören dem Jubilar Geburtstagsreden.
In den folgenden zehn Tagen katapultiert das Staatstheater Augsburg, das sich in den letzten Jahren als Vorreiter digitalen Theaters etabliert hat, Brecht mit Kybernetik und künstlicher Intelligenz in die Zukunft und beamt ihn per Diskussion, Schreibwerkstatt und szenischer Lesung ins Festival. Das Theater Bremen verwandelt mit »Leer/Stand – Der Brotladen oder: Wem gehört der Stadtraum?« eine leer stehende Sparkassenfiliale in einen Erzählraum mit Schauspiel, Videos und Installationen. Suse Wächter und das Berliner Ensemble zaubern »Brechts Gespenster« mit zwei Musikern und einem Puppenspieler in den martini-Park. In der Saunawelt mitten im Lechhauser Wohngebiet zeigt das Augsburger Ensemble Bluespots Productions »Saunah – ein Drama in drei Aufgüssen«. Mit »Der Geist der Taverne« präsentiert die Regisseurin Dorothea Schroeder in der Stadtteilbücherei ein Audiofeature rund um Lechhauser Kneipen. »Kampf um Augsburg« ist eine Wrestlingshow von Julian Warner und Veronika Maurer, bei der es nicht nur um Niederlagen und Triumphe geht. Die Alevitische Gemeinde Augsburg e.V. präsentiert mit »Brecht aus der Türkei« einen Abend mit Gespräch, Lesung und Musik, und das Multispezies-Stadtprojekt »Organismenrepublik Augsburg« mit der Berliner Künstler*innengruppe Club Real untersucht, wie Gesellschaft funktioniert. God’s Entertainment laden mit »Unter dem Teppich« zum gemeinsamen Weben ein. Und der Augsburger Buchhändler Kurt Idrizovic führt beim literarischen Vorstadt-Spaziergang das Publikum an die Originalschauplätze, an denen der junge Bertolt Brecht schwamm, dichtete und liebte.
Das Musikprogramm des Festivals kuratieren Markus Acher (The Notwist) und Girisha Fernando. Franz Dobler & Das Hobos fragen »Wer macht den Dreck und wer macht die Wäsche?« und bauen einen groovigen Klang- und Denkraum mit Witz, während das »Sound Lab for Fluid Ways of Knowing« Künstler*innen, die in Ghana und Deutschland leben, »in einen Prozess künstlerischer Forschung zu Methoden der Fluidität, Oralität, Non-Dualität, des Prozesses und der Improvisation« bringen. Das steht für die Vorstellung des Kurators von einem »Gesamtkunstwerk-in-progress«, das das Brechtfestival werden soll. »Mehr Prozess des Kurators, mehr Versuch, mehr Machen als Sein« heißt es in der vollmundigen Beschreibung. »Das Brechtfestival muss ein Ort sein, wo zusammen um Ideen und Haltungen gerungen werden darf – auch kontrovers. Das müssen wir alle aushalten«, erklärt Julian Warner. Da kriegt das Publikum was zu tun. ||
BRECHTFESTIVAL
Augsburg | diverse Spielorte | 10.–19. Feb. | Programm und Tickets | Informationen zu allen Veranstaltungen im Brechtjahr
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