Das Berliner Theatertreffen verlegt Inszenierungen und Livegespräche ins Internet.
Theatertreffen virtuell
Beim Berliner Theatertreffen werden jedes Jahr die zehn besten Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum gezeigt. Dieses Jahr sind gleich drei Produktionen aus der freien Szene dabei. Doch was tun, wenn keiner sie sehen kann? Da hilft wie zurzeit immer das Internet: Beim Theatertreffen virtuell gibt es zwischen 1. und 9. Mai sechs der zehn eingeladenen Theaterarbeiten als Aufzeichnung on Demand 24 Stunden lang zu sehen. Damit der Festivalcharakter nicht verloren geht, erwarten die geneigten Zuseher aber auch Einführungen durch Dramaturgen und Live-Nachgespräche mit Schauspielern, Regisseuren, Dramaturgen, Bühnenbildern und jeweils einem Jurymitglied, die auch dem Publikum Gelegenheit zum Austausch geben sollen. Am 7. Mai ab 18 Uhr findet die »Lange Nacht der Tutorials« statt, bei der man bis ein Uhr nachts stündlich technische, juristische, soziale und theaterpraktische Gebrauchsanweisungen für Netz-Theater an die Hand bekommt.
1. Mai: Shakespeares Hamlet
Wie im analogen Theater begrüßt Yvonne Büdenhölzer, die Leiterin des Theatertreffens, am 1. Mai erst einmal die Zuschauerinnen und Zuschauer, bevor es mit Johan Simons »Hamlet«-Inszenierung vom Schauspielhaus Bochum losgeht. Als ob sie Corona vorausgeahnt hätten, stehen die Figuren aus Shakespeares Tragödie in gebührendem Abstand zueinander auf der Bühne herum, wie bei einer Familienaufstellung. Es handelt sich ja auch um eine dysfunktionale Familie, in der Sandra Hüller als leicht autistischer Hamlet ihren Kampf gegen Onkel und Stiefvater Claudius (Stefan Hunstein) führt, bis Dänemark zerstört ist.
Sandra Hüller wird sich gemeinsam mit Gina Haller, die eine feministische Ophelia spielt, und Regisseur Johan Simons sowie Dramaturg Jeroen Versteele nach der Aufführung mit Jurymitglied Cornelia Fiedler unterhalten.
2. Mai: Alice Birchs »Anatomie eines Suizids«
Am 2. Mai wird es dann grundsätzlich, wenn im Theatertreffen-Kontext-Programm »UnBoxing Stages – digitale Praxis im Theater« gefordert wird: »Stoppt das Streaming!« Nicht dabei bei dieser Grundsatzdebatte über Chancen und Gefahren von Theater im Netz ist Uwe Mattheis, der am 11. April in der »taz« forderte: »Hört auf zu streamen!« Seiner Meinung nach treiben die digitalen Kunstaktionen im Netz hauptsächlich die Ausbeutung der ohnehin schon prekären Künstlerexistenzen voran. Beim Theatertreffen virtuell unterhalten sich hauptsächlich Künstler über die Problematik von Kultur im Netz (18 Uhr).
Danach kann man sich »Anatomie eines Suizids« vom Schauspielhaus Hamburg anschauen. Alice Birch stellt darin drei Frauen aus drei Generationen vor, die sich durch ein Leben voller Depression kämpfen, aus dem der einzige Ausweg der Freitod zu sein scheint. »Ich werde versuchen zu bleiben, ist das verzweifelte Mantra von Clara, Anna und Bonnie, die Regisseurin Katie Mitchell in einem klinischen Setting in einem betonierten Raum nebeneinanderstellt. Nach der zweistündigen Vorstellung gibt es ein Nachgespräch mit der Regisseurin und Schauspielerinnen.
3. Mai: Anta Helena Reckes »Die Kränkungen der Menschheit«
Welche Erzählweisen im Onlinetheater möglich sind, versuchen am 3. Mai die Autorin und Dramaturgin Eve Leigh, die Dramatikerin Anne Rabe, der Musiker und Filmemacher Lionel Poutiaire Somé, Journalist und Theatermacher Arne Vogelgesang und Klaas Werner vom Künstlerkollektiv Anna Kpok herauszufinden. Im zweiten Panel des TT-Kontext-Programms »Von Netz-Dramatik und digitalem Storytelling – Welche Erzählweisen bietet Theater online?« geht es darum, wie man Geschichten erzählen kann, wenn die vierte Wand der Bildschirm ist (18 Uhr).
Es folgt der Theatermitschnitt von Anta Helena Reckes »Kränkungen der Menschheit«. In ihrer Performance beleuchtet Recke Mechanismen unserer Wahrnehmung, indem sie Menschen in Schaukästen ausstellt, wie es in den sogenannten Völkerschauen des 19. und 20. Jahrhunderts geschah, und diese Gruppen einer Art altmodischer Kunstbetrachtung unterwirft. Zuerst erscheint eine Gruppe, die sich äffisch oder frühmenschisch verhält, dann Museumsbesucher. Und zum Schluss ziehen in dieser kurzen, eher installativen Arbeit Frauen in bunten Gewändern vorbei. Wer betrachtet bestimmt über den Betrachtenden. Es geht um Perspektiven, eigentlich ist aber Rassismus gemeint.
Eigentlich sollte vom Ruhm dieser Einladung zum Theatertreffen ein Strahl auf die Münchner freie Szene fallen. Im Rahmen der Förderung für Münchner freie Theaterschaffende erhielt Recke für »Kränkungen« vom Münchner Kulturreferat 75.370 Euro Förderung. Erwähnt wird das aber nur ganz klein am untersten Rand: »Gefördert durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München und den Fonds Darstellende Künste«. Oben drüber steht groß »Münchner Kammerspiele in Koproduktion mit HAU Hebbel am Ufer (Berlin), Kampnagel (Hamburg) und Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt).
Beim Nachgespräch ist die Regisseurin nicht zugegen. Dafür die Choreografin Joana Tischkau sowie Ariane Andereggen, Valerie Göhring und Maxi Menja Lehmann, die an der Produktion als Schauspielerin, Dramaturgin und künstlerische Mitarbeiterin beteiligt sind.
Am folgenden Tag unterhalten sich Alexander Giesche, Janne Nora Kummer, Björn Lengers, Matthias Lilienthal und Kay Voges darüber, wie künstlerisches Arbeiten im digitalen Raum funktionieren kann, und zwar »Vom digitalen Konzeptionsgespräch bis zur Online-Premierenfeier« (18 Uhr). Ob Letzteres so gut ankommen würde?
5. Mai: Florentina Holzingers Körpertheater und Tennessee Williams »Süßer Vogel Jugend«
Theatertreffen virtuell wartet mit noch einem Format auf: dem TT-Kontext-Künstlerinnengespräch. Unter dem Titel »Körperliche Praxis und Digitalität« sprechen Florentina Holzinger, Renée Copraij und Beatrice Cordua über die reale Körperlichkeit in ihren Arbeiten, die zum großen Teil aus Akrobatik und Martial-Arts-Elementen bestehen. Sie stellen die Frage, was mit einem Körper passiert, sobald er im digitalen Raum auftritt. Was mit Holzingers Körpern geschieht, kann nicht überprüft werden, denn ihre Arbeit »Tanz. Eine sylphidische Träumerei in Stunts« ist leider nicht unter den sechs Mitschnitten, die gezeigt werden. Holzingers unmittelbares Theater kann man sich auch nur schwer als Konserve vorstellen (18 Uhr).
Tennessee Williams 50er-Jahre-Südstaaten-Drama »Süßer Vogel Jugend« wirkt inmitten der eingeladenen Inszenierungen erst einmal deplatziert, ist aber eine veritable Satire auf den alten weißen Mann und seine Macht. Die für ihre schrillen Trash-Inszenierungen bekannte Regisseurin Claudia Bauer spiegelt in der melodramatischen Rückkehrergeschichte vom Schauspiel Leipzig die Mee-too-Debatte, auch wenn es hier eine ältere weiße Frau ist, die einen jungen Mann benutzt. Er merkt das nur zu spät.
Danach ist wieder Gelegenheit zum Nachgespräch mit der Regisseurin, den Hauptdarstellern Anita Vulesica und Florian Steffens sowie dem Bühnenbildner Andreas Auerbach.
6. Mai: Rimini Protokolls »Chinchilla Arschloch, waswas«
Rimini Protokoll etablierte auf deutschsprachigen Bühnen die Experten des Alltags: echte Menschen in dokumentarischen Theaterarbeiten. Diesmal sind die Menschen auf der Bühne Experten des Tourette-Syndroms. Aber nicht, weil sie fachmännisch drüber reden, das können sie natürlich auch, sondern weil sie mit der zentralnervösen Bewegungsstörung leben. Drei Menschen mit Tourette stehen auf der Bühne und erforschen, wie viel Unberechenbarkeit das Theater aushält. Wie reagiert das Publikum, wenn sich ein Tic Bahn bricht? Auch wenn auf der Bühne aus der Rolle gefallen wird, passiert das doch immer kontrolliert. An diesem Abend allerdings nicht.
Danach geben die Experten Christian Hempel, Benjamin Jürgens und Bijan Kaffenberger zusammen mit Helgard Haug, Barbara Morgenstern und Cornelius Puschke Einblicke in ihre Arbeit.
8. Mai: Toshiki Okadas »The Vacuum Cleaner«
Toshiki Okadas Stück über Hikikomori passt ganz gut zum Corona-Lockdown. Nur dass die Hikikomori sich freiwillig isolieren und nicht mehr rausgehen. An die absurde Komik von Okadas vorheriger Inszenierung an den Münchner Kammerspielen »No Sex« reicht »The Vacuum Cleaner« nicht heran. Das Tableau der Vereinsamung einer dysfunktionalen Familie hat aber seine Momente. Jede Figur ist in ihrem irritierenden Körpertourette gefangen, doch gelegentlich verzahnen sie sich wie unabsichtlich, und dann hat man den Eindruck, dass auch die Menschen in ihrem japanischen Schiebewändehaus Kontakt herstellen könnten. Auch wenn der Staubsauger ihr bester Freund ist.
Im Anschluss gibt es ein Nachgespräch mit den Schauspielerinnen Annette Paulmann und Julia Windischbauer, dem Regisseur Okada sowie Dramaturg Tarun Kade und Bühnenbildner Dominic Huber.
9. Mai: Systemcheck
Systemrelevant ist das Schlagwort der Stunde. Die Kunst gehört nicht dazu, sonst würden Künstler hilfetechnisch nicht mit dem kaltschnäuzigen Hinweis auf Hartz IV oder einem noch nicht eingelösten Versprechen auf eine Art kurzfristiges Grundeinkommen abgespeist, während gleichzeitig Autobauer, die gerade 20 Milliarden Gewinn eingefahren haben, lautstark nach Staatshilfe schreien, statt erst einmal ihren Gewinn aufzubrauchen, wie das jeder Künstler machen muss.
Im TT-Kontext-Gespräch »Systemcheck – Nicht Corona ist die Krise« fragen Thomas Oberender und der Kurator Ibou Coulibaly Diop, ob Kultur einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen und auf welche Art eine globale Krise das Betriebssystem der Kultur verändern könnte (18 Uhr).
Im Finale blicken dann die Jurorinnen und Juroren des Theatertreffens auf das virtuelle Festival zurück und sprechen darüber, wie oder ob Theater online funktionieren kann und was für Tendenzen im Theater anstehen (20 Uhr).
Theatertreffen Virtuell
online | 1.–9. Mai | 20 Uhr
Unsere aktuelle Ausgabe gibt es ab dem 2. Mai im Online-Kiosk, auf ikiosk.de, an unseren Verkaufsstellen.
Das könnte Sie auch interessieren:
Über Menschen: Die Juli Zeh-Adaption am Volkstheater
FuturX: Die Performance »Kippen« im HochX
Pandora Pop im im HochX
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton