Patrick Wengenroth bestückt zum dritten Mal das Augsburger Brechtfestivalmit interaktiven Angeboten und Denkanstößen.

Natalie Hünig ist »Baal« | © Jan-Pieter Fuhr

»… nicht schlecht ist die Welt / Sondern / Voll.«, stellte der junge Bertolt Brecht in seinem Gedichtzyklus »Aus dem Lesebuch für Städtebewohner« in den 1920er Jahren lapidar fest. Damals hatte er bereits seiner Heimatstadt Augsburg den Rücken gekehrt undpendelte zwischen München und Berlin,um seine Stücke an den Theatern der Metropolen unterzubringen. Was sich daraus für den Einzelnen ergibt, wie sich Städte als Resonanzraum für Künstler oder als Agitationsplattform für politische Bewegungen nutzen lassen, darüber hat Brecht in der Folge viel nachgedacht und geschrieben. Für den in Hamburg geborenen und in Berlin lebenden Regisseur Patrick Wengenroth, der heuer zum dritten und letzten Mal das Augsburger Brechtfestival kuratiert, ein Anknüpfungspunkt, von dem aus sich ein Bogen von Brechts lyrisch-expressionistischer Frühphase ins Hier und Jetzt spannen lässt: »Während ich am Anfang gar nichts über Augsburg wusste«, erinnert sich Wengenroth, »fühle ich mich hier mittlerweile wohl, habe meine Lieblingsorte und viele Menschen kennengelernt, die ich sehr toll finde, Künstler wie Zuschauer wie Bürger. Insofern war der Wunsch da, etwas über Städtebewohner bzw. Städtebewohner*innen zu machen.«

So wird zunächst die freie Augsburger Theatergruppe Bluespots Productions in der Reihe »Shitty City« alle zehn Städtebewohner-Gedichte in jeweils einmaligen multimedialen Performances über das Festival und den Stadtraum verteilt präsentieren. In dem Rechercheprojekt »Auf der Straße« von Karen Breece, einem Gastspiel des Berliner Ensembles, geht es konkret um drei obdachlose Menschen, die von ihrem Leben in der Stadt berichten. Das Augsburger theter ensemble untersucht dagegen mit Rainer Werner Fassbinders Stück »Anarchie in Bayern«, wie das Schreckgespenst Revolution auch heute noch in gesellschaftlichen Bedrohungsszenarien instrumentalisiert wird.

Kollektive Arbeitsweisen und flache Hierarchien liegen vielen Produktionen dieser Festivalausgabe zugrunde, und auch das »*innen« hinter »Städtebewohner« auf allen Flyern und Broschüren ist nicht nur ein pflichtschuldiger Tribut zur Gleichstellungsdebatte, sondern als Plädoyer für mehr Ausgewogenheit der Repräsentanz von Anfang an ein zentrales Anliegen des Festivalteams. Da passt es, dass das Staatstheater Augsburg bei seinem diesjährigen Programmbeitrag »Baal« mit Mareike Mikat nicht nur die Regie, sondern mit Natalie Hünig auch die Hauptrolle weiblich besetzt hat.

: Die Protagonisten von »Auf der Straße« drehen das Glücksrad des Lebens | © Julian Röder

Überhaupt schreckt Wengenroth vor Bekenntnissen nicht zurück, wenn er erklärt: »Als Überschrift über alle drei Jahre setze ich, dass ich an Kultur und Kunst als Motor für gesellschaftliche Veränderung glaube. Das ist sozusagen das zweite Festivalmotto: ›Ändere die Welt, sie braucht es.‹« Wenn also auf dem Plakat mit dem Städtebewohner-Pappbecher auch noch klein »Moral to go« zu lesen ist, sollte man das nicht rein ironisch verstehen. Vielmehr haben einige der 36 Programmpunkte einen dezidiert aufklärerischen Impetus, so zum Beispiel das interaktive Gedankenexperiment »Böse Häuser« des Berliner Performancekollektivs Turbo Pascal, zu dem es einen Schreibworkshop für Jugendliche gibt und bei dem die Zuschauer in einer Gruppensituation per Kopfhörer dirigiert und unbewusst gegeneinander ausgespielt werden. »Das passiert ja oft«, so Wengenroth, »man denkt, man tut das Richtige für sich und die Seinen, und plötzlich merkt man, das grenzt aber andere total aus. Gerade bei Fragen von Inklusion und Integration ist das oft so, und dann kommt dieser positive Rassismus dabei raus, was man gar nicht wollte. Wenn man das Glück hatte, in einem gewissen Wohlstand mit einem bestimmten Bildungszugang aufzuwachsen, ist es naturgemäß total schwierig, sich vorzustellen, wie ist das, keinen Zugang zu Bildung zu haben. Solche Erfahrungen kann man durch Dialog oder Information thematisieren, aber da ist, denke ich, Theater der bessere Ort. Theater als eine Art neuer Volkshochschule, hätte ich jetzt fast gesagt, aber im positiven Sinne, weil da ja auch das Bestreben ist, niedrigschwellige Zugänge zu schaffen, die alle meinen.«

Dass dabei aufseiten des Publikums eine gewisse Bereitschaft zur Auseinandersetzung vorausgesetzt und angesprochen wird, leugnet Wengenroth nicht: »In dem Sinne geht es mir nicht um so ein Wellness Click-and-buy-Theatererlebnis, wo man einfach froh ist, dass man irgendjemand Berühmtes, den man aus Film- und Fernsehen kennt, gesehen hat, sondern darum, dass man denTheaterabend als einen Startpunkt nimmt, um sich dann weiter mit einem bestimmten Gegenstand, mit einem Autor oder einer Fragestellung zu beschäftigen.«

Devid Striesow, Ursina Lardi und André Jung (v. l.) in »Unendlicher Spaß« | © David Baltzer / Agentur Zenit

Ein paar (TV-)Bekanntheiten wie Jasna Fritzi Bauer, André Jung, Ursina Lardi und Devid Striesow gibt es zum Schluss dann doch noch zu bewundern, allerdings im garantiert unkonventionellen Exklusivformat von Thorsten Lensings gefeierter, frei produzierter Inszenierung »Unendlicher Spaß« nach dem Roman von David Foster Wallace, in dem es darum geht, wie auch Menschen, die nicht an zu wenig Teilhabe leiden, in ihrer Wohlstands- und Konsumblase depressiv und manisch werden. »Das sind«, so Wengenroth, »in meinen Augen zwei Seiten derselben Medaille.« Und in der langen Brechtnacht am ersten März kann man dann neben gestandenen Acts wie Gustav aus Wien und Dota aus Berlin, weiß man’s, auch Stars der Zukunft wie dem blutjungen britischen Future-Pop-Duo Let’s eat Grandma begegnen. ||

BRECHTFESTIVAL AUGSBURG
Verschiedene Orte| 22. Feb. bis 3. März| Programm und Tickets

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