Ein Klassiker zum Fest: »Der Nussknacker«, neu erzählt, im Gärtnerplatztheater.

Die Schneekönigin (Rita Barão Soares, Mitte) und ihr Gefolge in Karl Alfred Schreiners »Der Nussknacker«| © Marie-Laure Briane

Keine Spitzenschuhe, keine Tutus, keine tanzsatten Divertissements – ein Teil des Publikums im Münchner Gärtnerplatztheater sah den traditionell in der Weihnachtszeit aufgeführten Tschaikowsky-Petipa Klassiker »Der Nussknacker« (1892) schändlichst verunstaltet. Tatsächlich hat Tanzchef Karl Alfred Schreiner dieses Ballettjuwel in seiner jüngsten Premiere zeitgenössisch kühn aufgemischt. Dass andere Choreografen mit ähnlichen Großklassikern so verfahren sind – Mats Ek bereits 1982 mit der klassischromantischen »Giselle« zum Beispiel –, ist offensichtlich beim breiten Publikum noch nicht angekommen. Erstaunen und Verwirrung also bei dieser aufgeheizten, ziemlich schrägen Weihnachtsfeier der weit verzweigten Familie Stahlbaum.

Alle, vom Großvater bis zu den Enkeln, scheinen angetrieben von dem hektischen Aktionismus unserer Zeit. Geschenke werden hastig aufgerissen. Verpackungsfetzen fliegen durch die Luft. Und getanzt wird, den Körper ständig in scheinbar gelenklose Bewegung setzend, hundert Prozent klassikfrei. Petipas Patenonkel Drosselmeier (die Gärtnerplatz-Schreibung ist Droßelmeier), ein ältlicher skurriler Ballettmeister, ist bei Rodrigo Juez Moral ein schmalzlockiger Beau in eierschalenfarbenem 20er-Jahre-Chic, im Schlepptau seinen Junior. Statt Nussknacker-Geschenk bringt er, prächtig gebunden, E.T.A. Hoffmanns Erzählung »Nußknacker und Mäusekönig« mit, die dem Ballett zugrunde liegt. Sein Sohn »liest« in weit ausgreifender Gestensprache daraus vor, hat dann nur noch Augen für Klara. Anna Calvo und David Cahier sind in ihren fließenden unaufgeregten Pas de deux der lyrische Ruhepol in Schreiners wurliger Weihnachtsfete.

Klara, an ihrem Walnuss-Pult zunächst in Hoffmanns Text vertieft, schlummert schließlich hinüber ins Land der Träume, wo sie Droßelmeier jr. wiedertrifft wie auch alle Stahlbaums und Freunde, die nun jedoch merkwürdig traumverändert sind. Klaras Mama, von Rita Barão Soares statuarisch getanzt, herrscht als weiße Punk-Schneekönigin über ein so gar nicht grazil walzerndes Schneeflockengefolge. Nebenbei findet sie Gefallen an dem noch jugendlich fesch daherschlenkernden Droßelmeier sen. Schreiner zieht konsequent sein antiästhetisches Konzept der Klassik-Untergrabung durch. Opa Stahlbaum tapst als Eisbär über die Bühne und ist ansonsten ein altersgrantig gestikulierender Typ. Der mediterrane Familienzweig mit Hahnenkamm-Coiffure deutet mit kralligen Händen und Kikeriki einen spanischen Tanz an, weit entfernt vom Original. Petipas chinesischer Tanz wird sogar, und das gekonnt, mit Breakdance gekreuzt. Und der erotisch angetörnte Butler rollt unverfroren das kesse Hausmädchen auf dem Servierwagen durch die christbaumgeschmückte Festtagsszenerie.

Dieses in sich stimmig umgebaute Libretto verschiebt die Geschichte in die Gegenwart mit ihren neuen Tanzstilen und den im 19. Jahrhundert noch als skandalös empfundenen gesellschaftlichen Verhaltensweisen. Dabei geht Schreiner weiter als die lange Reihe der »Nussknacker«-Erneuerer: von George Balanchine, John Cranko, John Neumeier bis zu Patrice Bart und Toer van Schayk & Wayne Eagling. Der Abend hat ein, zwei Längen: das gefühlt endlos wuselnde Mäuseheer und das Clownsduo als qietschsprachige Publikumsanimateure. Man kann’s verschmerzen. Rifail Adjarpasics Bibliothek-Salon-Kombination in einst modischem Alteiche-Imitat – echt scheußlich! – kann mit seiner faden Gemütlichkeit quasi alsironischer Kontrast zu den freakischen Stahlbaums gesehen werden. Und da sind wir bei der Crux: Schreiners Version insgesamt erscheint uns als »Camp«. Ein hierzulande eher selten gebrauchter Begriff, der in Amerika seit den 1960er-Jahren in der antiakademischen Beachtung von populärer Kultur gängig wurde. Susan Sontag charakterisiert in ihrem Essay »Notes on Camp« von 1964 die Camp-Ästhetik als thea tral, überkünstelt, frivol, naiv, kleinbürgerlich, angeberisch und zugleich schockierend übertreibend – ohne den jeweiligen Kunstgegenstand der Lächerlichkeit preiszugeben. All dies trifft zu auf Schreiners Stahlbaum-Story und sein hundertprozentig engagiertes Ensemble. Auch das Staatsorchester unter Kiril Stankow lässt sich tempoflott, dabei klangdifferenziert auf diese rasante campy »Nussknacker«-Neuauflage ein – als Inspiration für noch skeptische Zuschauer. ||

DER NUSSKNACKER
Gärtnerplatztheater| 9., 23. Dezember | 19.30 Uhr | 25. Dez.18 Uhr | Tickets: 089 21851960

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