Oliver Frljic´ bringt Heiner Müllers »Mauser« im Marstall nicht ganz auf den Punkt.
»Die Sinnfrage ist eine Dekadenzerscheinung. Ich schreibe, um schlafen zu können« – so lässt Regisseur Oliver Frljic´ am Ende des Abends den Autor sein eigenes Werk noch einmal in schräges Licht rücken, zitiert aus einem Interview mit Elfriede Jelinek aus dem Jahr 1987. Kurz darauf zerhackt Schauspielerin Nora Buzalka eine aus Wasser gefrorene Heiner-Müller-Büste mit dem Beil, und Alfred Kleinheinz als dessen Alter Ego füllt ein paar Eissplitter davon in sein Whiskyglas – eine charmante Geisteraustreibung, nachdem es 90 Minuten lang vor einem meterhohen Monumentalporträt des Meisters mit rauchender Zigarre zumindest symbolisch um Leben und Tod ging.
Geschrieben 1970 stellt »Mauser« die Frage nach der Rechtfertigung des Tötens im Dienste der Revolution indes in so radikaler Weise, dass es als einziges Stück Müllers in der DDR explizit verboten war, weil es als konterrevolutionär und antisozialistisch galt. In kritischer Anlehnung an Brechts Lehrstück »Die Maßnahme« treibt Müller die Geschichte des gewissenhaften Henkers, der unter der Last täglicher Hinrichtungen zum orgiastischen Lustmörder an seinen Verurteilten wird und, als solcher für sein Amt nicht mehr zu gebrauchen, zuletzt der eigenen Hinrichtung zustimmen soll, in die offene Aporie –denn »Wozu das Töten und wozu das Sterben / Wenn der Preis der Revolution die Revolution ist / Die zu Befreienden der Preis der Freiheit.«
Für seine Verhältnisse beinahe behutsam und womöglich auch froh über eine Atempause nach den heftigen Anfeindungen von nationalistischer und katholischer Seite während der letzten Wochen in Warschau und Split, macht sich Frljic´ im Marstall zusammen mit fünf Akteuren (neben Buzalka und Kleinheinz noch Christian Erdt, Marcel Heuperman und Franz Pätzold) an die physische Erkundung des Textes. Ausgehend von der Schwere der Körper – zu Beginn schleppen sich die Schauspieler wie Leichen gegenseitig auf die Bühne, attackieren sich oder klammern sich, häufiger noch, aneinander fest – wirkt das malgewollt ostentativ, wenn sie sich den Revolver bis zum Würgereiz in den Mund schieben, dann wieder schonungslos intim, als sich Heuperman in forcierter Selbstanklage dicht vor den Zuschauern auf den nackten Hintern
schlägt.
Der präzisen Sprachgewalt Heiner Müllers kommen die selten zwingenden Körper-Bilder allerdings kaum bei, und nur Pätzold gelingt es trotz Heiserkeit, den Sätzen ihren insistierenden Schliff zu verleihen. So reicht die Inszenierung mit ihren spielerischen Suchbewegungen zwar nicht an die Wucht und Schärfe von »Balkan macht frei« heran, mit dem Frljic´ und Pätzold vor zwei Jahren ebenfalls am Marstall verstörend Furore machten. Müllers darin zwischengelagertes Spaltmaterial bleibt jedoch selbst auf postrevolutionären Hackstöcken noch nachhaltig virulent. ||
MAUSER
Marstall| 22., 27., 29. Mai, 9., 17. Juni
20 Uhr | Tickets: 089 21851940
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