Christian Stückl macht aus Thomas Melles Missbrauchsstück »Bilder von uns« einen aufwühlenden Abend.

Bilder von uns

Einblicke in die Grauzone

bilder von uns

Auf der Suche nach den Leerstellen in der eigenen Biografie | © Arno Declair

Für gewöhnlich holen wir die Bilder unserer Vergangenheit – mehr oder weniger geschönt – aus dem eigenen Gedächtnisarchiv, manchmal jedoch braucht die Erinnerung erst einen Auslöser, um sich in die verminte Grauzone toxischer Erlebnisse vorzuwagen. In Thomas Melles Stück »Bilder von uns« (2016 in Bonn uraufgeführt) bekommt Jesko, erfolgreicher Medienmanager, verheiratet, Kinder, anonym ein Foto zugeschickt, das ihn selbst fast nackt als 12-Jährigen zeigt – ein Bild, das bisher nicht Teil seiner Selbstwahrnehmung war und wie ein Blitz ein Loch in die Wolkendecke der Verdrängung reißt. Die Fotografie treibt ihn auf die Suche: nach dem Absender, nach dem Fotografen – einem inzwischen verstorbenen ehemaligen Schulleiter und katholischen Pater –, nach dem, der er selbst damals war, und nach dem Unbegreiflichen, dem er und seine Kommilitonen als Schüler eines Jesuitenkollegs in den 1980ern und 1990ern ausgesetzt waren. »Was habe ich erlebt?« und »Was macht das heute mit mir?« heißen die offenen Fragen, die im Verlauf des Stücks zu unterschiedlichen Haltungen und Konsequenzen führen werden.

Ausgangspunkt für Melle war die Aufdeckung des jahrzehntelangen sexuellen Missbrauchs am Bonner Aloisiuskolleg, das er selbst einige Jahre lang besucht hatte. Zu Beginn lässt Regisseur Christian Stückl aufgeregte Stimmen aus dem Off Schlagzeilen über schockierende Übergriffe in katholischen Institutionen zitieren, darunter auch Kloster Ettal, wo Stückl zwar nicht unmittelbar Opfer, aber doch indirekt Mitleidender an den gewaltsamen Verhältnissen in seinem näheren Umfeld wurde.

Melle und mit ihm Stückl richten im Folgenden den Fokus dorthin, wo das Interesse der Medien meist nicht hinreicht, auf den Alltag der Betroffenen, noch bevor die Öffentlichkeit sie mit einem Tsunami vermeintlicher Solidarität und Sensationsgier überschwemmt, und auf die Frage, was passiert, wenn die wohlverdrängte Vergangenheit plötzlich greifbar wird. Dazu hat Stefan Hageneier ein aseptisches Designinterieur auf die große Bühne gebaut, mit klaffenden Lücken zwischen schmalen Teilwänden, als wäre das Leben, das darin stattfindet, noch nicht vollständig eingerichtet, eine Wohnlandschaft mit weißen Flecken, in denen unsichtbar die Scham der verletzten Kindheit festsitzt.

Darin kämpft Alexandros Koutsoulis als Jesko zunehmend hysterisch um seine Fassade als Winner und Familienmensch, überwacht von seiner aus Sorge leicht übergriffigen Ehefrau (Henriette Nagel). Zu Besuch kommen drei Schulfreunde: Malte (Janek Maudrich), ebenfalls erfolgreich in der Werbebranche etabliert, geht es bald nur noch um brutalstmögliche Aufklärung mittels Prozess und Talkshowauftritte, das volle Programm. Johannes (Max Poerting), äußerlich cool und abgefuckt, ist als Anwalt bereit, auf Wunsch der Mandanten alles zu vertreten. Sichtbar gezeichnet ist der depressiv-drogensüchtige Konstantin, den es als »Liebling« des Paters am schlimmsten getroffen hat. Jan Meeno Jürgens spielt ihn mit stoischer Trauer wie einen Vergifteten, der sich beim Sterben selbst zusieht und irgendwann ein Ende macht. Dazu bringt Carolin Hartmann als Lehrerin, mit der Jesko eine Affäre hat, zum Kontrast eine Überdosis pädagogische Selbstzweifel mit – »jeder Trost ein Übergriff, jedes Mitleid eine Demütigung«? – und Nina Steils als Konstantins Freundin lässt ihre Wut in tödliche Resignation umschlagen.

Ein intensiver Abend ist Stückl mit seinem Ensemble da gelungen, der in seiner Tiefenschärfe mehr Einblicke in die Zerrissenheit der Opfer ermöglicht als manche Fernsehdebatte oder -dokumentation. ||

BILDER VON UNS
Volkstheater | Tumblingerstr. 29 | 28. Mai, 6., 17. Juni, 9. Juli | 19.30 Uhr | Tickets 089 5234655

Weitere Kritiken finden Sie in unserer aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

Das könnte Sie auch interessieren: