Mit individuellen Blicken auf die Welt und einer gemeinsamen Haltung zur Wirklichkeit – so präsentiert sich die Fotografen-Agentur Ostkreuz in einer faszinierenden Jubiläumsausstellung.

Setting up of the Friedrich-Engels-Sculpture at Sibylle Bergemann: Aus der Serie »Das Denkmal«| © Sibylle Bergemann /  OSTKREUZ

Setting up of the Friedrich-Engels-Sculpture at Sibylle Bergemann: Aus der Serie »Das Denkmal«| © Sibylle Bergemann /
OSTKREUZ

Am Berliner Bahnhof Ostkreuz treffen Bahnlinien aus allen vier Himmelsrichtungen aufeinander – und gehen von hier aus in die Welt hinaus. 1990 – die Mauer war gefallen, Deutschland noch nicht »wiedervereint« – gründeten sieben bereits zu DDRZeiten renommierte Ost-Fotografinnen und -Fotografen bei einer Ausstellung in Paris eine selbstverwaltete Fotoagentur, nach dem Vorbild des großen Bruders Magnum. Und wählten diesen Ort als symbolhaftes Label für ihr Ziel, mit ihrer Arbeit vom Osten in die Welt hinaus zu wirken.

Heute ist Ostkreuz die erfolgreichste von Fotografen selbst geführte Agentur Deutschlands und auch die Plätze auf der angegliederten, privaten Ostkreuzschule für Fotografie und Gestaltung sind sehr begehrt. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten die berühmte, 2010 verstorbene Sibylle Bergemann, Ute und Werner Mahler, Thomas Sandberg, heute Leiter der Ostkreuzschule, Harald Hausmann, Jens Rötzsch und Harf Zimmermann – alle haben sich fotografisch einen Namen gemacht und ihr Können teilweise in lehrender Funktion weitergegeben.

DDR-Geschichte und Weltbezug
Zum Jubiläum tourt seit vergangenem Jahr die Ausstellung »25 Jahre Ostkreuz«; nun ist sie in München gelandet und lohnt einen Besuch im Kunstfoyer der Versicherungskammer Kulturstiftung. Fotoserien aller 21 Mitglieder sind zu sehen – thematisch so vielfältig wie die Wege in die weite Welt, die die Fotokünstler vom Ostkreuz aus angetreten haben. In den Anfängen galt es jedoch zunächst, die eigene
DDR-Vergangenheit und -Sozialisation zu verarbeiten. Sibylle Bergemann war für viele Magazine in der DDR tätig. Im Auftrag des Ministeriums für Kultur begleitete sie fotografisch die Entstehung des Marx-Engels-Denkmals, das heute noch auf dem Alexanderplatz zu sehen ist. Elf Jahre dauerte die Fertigstellung. Bergemann hat alle Stadien festgehalten – manchmal gar etwas respektlos und unfreiwillig komisch geht sie mit den Nationalheiligen um – so, dass es den Machthabern von einst
sicher nicht gefallen haben dürfte. Entwurfsstadien mit Rümpfen ohne Köpfe, respektlos verhüllten Gesichtern, in Gipsbinden eingehüllten Körpern, Bergemann dokumentierte all diese Vorstufen, bis zu den fertigen Bronzegusskörpern.

Nicht minder eindrucksvoll ist eine weitere ihrer Serien: Über zehn Jahre hinweg hat die Fotografin das Ensemble des Berliner Theaters RambaZamba fotografiert, an dem Menschen mit geistigen Behinderungen als Schauspieler arbeiten. »Kostümiert und geschminkt wirken die Darsteller ausdrucksstark und zugleich wie fragile Gestalten, die, geradewegs einer fantastischen Welt entstiegen, uns von der Welt des Theaters erzählen«, heißt es treffend im Begleittext. Ute Mahlers »Abiturienten« ist eine hinreißende und erschreckende Langzeitstudie. Sie hat die Schulabgänger im Abstand von Dekaden immer wieder fotografiert. Eine Biografie reißt jäh ab, es gibt nur ein Bild. Von anderen gibt es die Chronik eines ganzen Lebens – vor und nach der Wende. Schicksale, oft erschreckende, breiten sich vor dem Betrachter aus.

Eine Haltung entwickeln
Mit den Jahren weitet sich der Blick der Vergangenheitsbewältigung über die engen Grenzen Dunkeldeutschlands hinaus. Es gibt ja noch weitere 99,9 Prozent des Weltgeschehens zu betrachten. Die Reportagen, Serien, Pressefotos der heute aus allen Teilen Deutschlands, auch aus dem Ausland stammenden und meist in Berlin lebenden Mitglieder werden in allen führenden Zeitschriften abgedruckt. Meist ist es die besondere Schärfe des Blicks auf Konfliktherde, auf Krisen politischer oder humanitärer Art, die die Ostkreuz-Fotografen auszeichnet – ein Blick, der sich der »Aufrichtigkeit« gegenüber dem Geschehen verpflichtet fühlt, so wie es das Credo von Ostkreuz formuliert: »OSTKREUZ, das ist eine Herangehensweise. Es bedeutet, herangehen an die Wirklichkeit. In ihr das Material finden, mit dem man arbeitet. Bei dieser Arbeit den Kern der Dinge erkennen, ihn abbilden und in diesem Abbilden ehrlich bleiben«, heißt es in der Satzung.

Besonders hakt sich beim Besuch der Ausstellung in der Erinnerung fest, wie Dawn Meckel 2009 die Ruinen der Autostadt Detroit einfängt, oder wie Heinrich Holtgreve in seinem Bilderzyklus »Das Internet als Ort« versucht, dieses elektronische Medium optisch zu erfassen – ob er nun einen Querschnitt durch ein Glasfaserkabel zeigt oder die Weltkarte der Internet-Seekabel. Unter die Haut geht Linn Schröders Selbstporträt mit Zwillingen und nur einer Brust. Leben und Tod treffen in einem Bild brutal aufeinander, da ist nichts Schönes – weder die überstandene Amputation noch das neue Leben können Freude auslösen.

Im Hintergrund aktiv, so kommt es einem vor, ist auch immer wieder die Ost-Vergangenheit, das Verschwinden eines Landes, eines Systems – die Fassungslosigkeit darüber, dass von einem Tag auf den anderen alles, alles anders war. Das zeigen etwa die Bilder über die Verwahrlosung der wenigen übrig gebliebenen Bewohner der einstigen Renommiersiedlung in Manhatten/Brandenburg von Stephanie Steinkopf. Oder, im chronistisch archivierenden Blick von Thomas Meyer auf den Osten, auf die Stätten und Relikte in dessen Serie zum Sicherheitsapparat »Inside Stasi«: Kilometerlange Aktenschränke, Verhörzellen, Tonband-Ungetüme machen die Absurdität des Überwachungssystem deutlich. ||

25 JAHRE OSTKREUZ. AGENTUR DER FOTOGRAFEN
Kunstfoyer der Versicherungskammer | Maximilianstr. 53 |
bis 15. Januar| täglich 9–19 Uhr | Gratis-Führungen: 2./25.
Nov., 3./11. Dez., jew. 12 und 17 Uhr | Ostkreuz-Fotografen im
Dialog: 8./15. Januar, jew. 13 und 15 Uhr | Als Begleitpublikation zur Ausstellung gibt es eine Mappe mit 166 Fotografien und Texten zum Preis von 38 Euro

Das könnte Sie auch interessieren: