Den Anfängen des modernen Tanzes widmet sich die sehenswerte Ausstellung »Jeder Mensch ist ein Tänzer« im Edwin Scharff Museum in Neu-Ulm.

Jeder Mensch ist ein Tänzer

Weg mit alten Zöpfen!

jeder mensch ist ein tänzer

Hanns Holdt: Clotilde von Derp tanzt eine Polka | Fotografie, um 1913 | © Archiv Hanns Holdt, Deutsches Theatermuseum München

Nur drei Minuten dauert die Fahrt mit der Regionalbahn von Ulm nach Neu-Ulm, das auf dem rechten Donauufer liegt. Von dort sind es noch ein paar Gehminuten zum Petrusplatz, wo sich das Edwin Scharff Museum befindet – ein Kunst- und Kindermuseum. Benannt ist es nach dem Bildhauer und Maler Edwin Scharff (1887–1955), dessen Werke in einer Dauerausstellung zu sehen sind. Aktuell zeigt das Museum Teil 1 der Sonderausstellung »Tanz wird Kunst« mit dem Untertitel »Jeder Mensch ist ein Tänzer«. Dieser Leitsatz stammt von dem einflussreichen Tanztheoretiker und Choreografen Rudolf von Laban. In seinem 1920 erschienenen Buch »Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen« formuliert er wiederum: »Jeder Mensch trägt den Tänzer in sich«, ergo jeder Mensch kann ein Tänzer sein, wenn er sich dazu berufen fühlt.

Die Ausstellung ist den Pionierinnen und Pionieren des freien Tanzes gewidmet, die den Formalismus des Balletts ablehnten und den natürlichen, von Hemmungen befreiten Körperausdruck propagierten – barfuß und im wahrsten Sinne des Wortes vom Korsett und alten Zöpfen befreit. Sie zeigt auch den allmählichen Übergang zum Ausdruckstanz. Der Parcours beginnt mit den US-Amerikanerinnen Loïe Fuller und Isadora Duncan, die mit ihren neuen Ideen in Europa auf große Resonanz stießen und zahlreiche Künstler inspirierten. Zu sehen sind Werbeplakate, die Fullers Serpentinentänze ankündigten wie das des italienischen Malers und Graphikers Manuel Orazi für das Théâtre Loïe Fuller auf der Pariser Weltausstellung von 1900. In den Skulpturen von Bernhard Hoetger, der Tischlampe von Raoul Larche oder der Vase von Hans Stoltenberg-Lerche sind ihre wirbelnden Stoff gebilde festgehalten, die eine Nähe zur Natur und das Prinzip der Metamorphose off enbaren. Isadora Duncan ist vor allem mit Pastellen von Jules Grandjouan (in zeitgenössischen Reproduktionen), Zeichnungen von Abraham Walkowitz (Originale) oder Valentine Lecomte (digital) zu sehen. Lecomtes Konvolut – entstanden in der Zeit von 1903 bis 1927 – gab sie erst 1952 mit Raymond Duncan, dem Bruder von Isadora, als Buch heraus. Mehrfach in Gruppen gehängte Serien erleichtern dem Besucher den Zugang zur Vielfalt der Motive wie beispielsweise die Präsentation von Kostüm- und Bühnenentwürfen Rudolf von Labans in Kombination mit Fotografien. Nicht weit davon ist ein Brunnenmodell von Walter Schott mit tanzenden Mädchen (1903) zu sehen, deren Bewegungsausdruck den Übungen der Schülerinnen von Émile Jaques-Dalcroze (Fotografie von Fred Boissonas) nicht unähnlich sind oder den Bewegungsstudien, die Walter Zeising in der Bildungsanstalt Hellerau auf seinen Radierungen festhielt. Sie vermitteln den Spirit jener Zeit und die herrschende Aufbruchstimmung.

jeder mensch ist ein tänzer

Max Ernst: Gertrud Leistikow in Tanzpose | 1913 | © VG Bild-Kunst, Bonn 2025; Foto: Allard Pierson, Amsterdam, Theatrecollections, The Netherlands

Vor allem waren es Tänzerinnen, die neue Impulse setzten, wie die Wienerin Grete Wiesenthal zunächst mit ihren zwei Schwestern, dann solistisch. Fünf Holzschnitte des Künstlers Erwin Lang, mit dem sie verheiratet war, zeigen sie in verschiedenen Rollenporträts. Die Amerikanerin Ruth St. Denis und Sent M’ahesa, die 1909 in München debütierte, fanden ihren eigenen Bewegungsstil, angeregt von außereuropäischen Kulturen oder altägyptischen Artefakten. In Aufnahmen sind sie mit ihren originellen Kostümen und gestellten Posen von renommierten Fotografinnen verewigt. Gleich vis-à-vis ist Gertrud Leistikow zu entdecken, u.a. mit Farblithografi en von Mommie Schwarz, Masken von Hildo Krop oder einem orangefarbenen Kostüm mit alter asiatischer Maske vor blauem Tuch. Sehr selten gezeigt werden zwei von fünf Tuschezeichnungen des jungen Max Ernst.

Zu den wichtigen Akteuren zählt auch Alexander Sacharoff . Er gilt als der erste moderne Tänzer; seine Karriere begann in München, wo er 1913 Clotilde von Derp kennenlernte. Als Paar traten sie seitdem erfolgreich auf. Die Kostüme entwarf er selbst, wie auf Fotografien und einem Buchcover zu sehen ist. Der letzte Abschnitt ist den Ballets Russes und dem Ausnahmetänzer Vaslav Nijinsky gewidmet. Mit seiner bahnbrechenden Choreografie »Le Sacre du Printemps« stellte er den Kanon des Balletts restlos auf den Kopf. Zahlreiche Nijinsky-Skulpturen von u. a. Ernesto de Fiori, Georg Kolbe und Fritz Klimsch sind in Verbindung mit ausgestellten Mappenwerken und Zeichnungen hier versammelt.

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Gertrud Leistikow: Kostüm für den Tanz »Rote Groteske« 1921 | © Foto: Allard Pierson, Amsterdam, Theatrecollections, The Netherlands | Die Ausstellung zeigt eine originalgetreue Replik, 1990, und dazu eine Tanzmaske © Privatbesitz Utrecht

Das Museum erfüllt sich mit dieser Präsentation einen lang gehegten Wunsch. Die Kuratorin Ina Ewers-Schultz hat sich mit dem Thema aus der Perspektive der Kunsthistorikerin auseinandergesetzt. Die sehenswerte Ausstellung zu den Anfängen des modernen Tanzes mit über 140 Exponaten ist noch bis zum 22. Juni zu sehen. Am 6. Dezember 2025 folgt Teil 2 mit dem Titel »Tanze dein Leben / Tanze dich selbst«. Der  Fokus liegt hier auf den 1920er Jahren, als der moderne Tanz schon als Kunst anerkannt war und der »Ausdruckstanz« zur Massenbewegung wurde. ||

»JEDER MENSCH IST EIN TÄNZER«. TANZ WIRD KUNST. TEIL 1
Edwin Scharff Museum | Petrusplatz 4, 89231 Neu-Ulm | bis 22. Juni | Di/Mi 13–17 Uhr, Do/Fr 13–18 Uhr, Sa/So/Fei 10–18 Uhr | Führung mit Ina Ewers-Schultz: 18.5., 11.30 und 13.30 Uhr
Der Katalog (hrsg. von Helga Gutbrod, 175 Seiten) kostet 19,95 Euro | Info und Begleitprogramm

Weitere Kritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

 


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