Grundschüler erkunden die Töne im Münchner Westend und erschaffen ein ganz neues Stadtbild. Wie gut, dass es »Musik zum Anfassen« gibt. Davon überzeugen konnte man sich am 11. Februar im Schwere Reiter.

Musik zum Anfassen

Die Welt ist ein Klang

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Goldrausch © Irina Pasdarca (3)

Die Welt ist Klang. Das hatte der Musikjournalist Joachim Ernst Berendt schon im November 1981 in seiner zweiteiligen Hörsoiree »Nada Brahma« für den Südwestfunk sehr eindrucksvoll und beispielhaft aufgezeigt. Etwas weniger esoterisch lässt sich die Welt des Hörbaren und die der magnetischen, der elektrostatischen und der sonstigen physikalischen Schwingungen zumindest als eine beschreiben, die von mehreren Klängen geprägt zu sein scheint. Solche Klänge spürten dann auch im Januar 2025 Schüler und Schülerinnen der Grundschule an der Guldeinstraße im Münchner Westend auf. Aus den Aufnahmen ihrer vorgefundenen Klänge, die sie vor Ort mit tragbaren Aufnahmegeräten dokumentiert hatten, komponierten die Kinder sodann eine Musik, die ihre Welt, so wie sie sie erleben, beschreibt. Inspiriert von Musikern des Vereins »Musik zum Anfassen«, die das musikpädagogische Projekt namens »Klang(g)schichten« mit den Schulkindern einen Monat lang begleitet hatten, bastelten die Kinder aus ihren gesammelten Klängen aber nicht nur Samples, die sie jetzt in unterschiedlichen Weisen zusammen erklingen lassen könnten. Vielmehr versuchten die Kinder, die entdeckten Klangwelten mit eigenen Instrumenten nachzuzeichnen. Bewusst wird dabei in den Kooperationen mit »Musik zum Anfassen« (Website) auf herkömmliche Instrumente verzichtet, deren Gebrauch die Kinder schließlich auch im regulären Musikunterricht lernen könnten. Stattdessen basteln die Kinder aus Papier, Schläuchen und aus sonstigen Gegenständen Klangkörper, die sie auf unterschiedliche Weisen dann zum Erklingen bringen. Tatsächlich erhalten die Kinder so ganz phantastische Instrumente, die eben mit sehr viel Phantasie entdeckt und entwickelt wurden.

Anders ausgedrückt heißt das also, dass die Kinder, noch ehe sie mit sehr viel Phantasie ihre Klangwelt erklingen lassen, mit nicht weniger Phantasie erst das Werkzeug erschaffen, mit dem sie später ihre weiteren Phantasien ertönen lassen können. Damit wird hier ein sogenanntes lösungsorientiertes Denken trainiert, das auch in anderen Situationen immer wieder vonnöten ist. Zudem benachteiligen die selbstgebastelten Instrumente keine Kinder, die im Gegensatz zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern zum Beispiel noch keinen Klavier- oder Geigenunterricht hatten. Damit schafft Musik zum Anfassen ein musikalisches Erleben, das gleichberechtigt von allen Kindern mitgeprägt und mitgenossen wird, weil es eben keine Vorkenntnisse voraussetzt.

Exzellente Aufmerksamkeitsschulung

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Indem die Musiker von Musik zum Anfassen beim Abschlusskonzert des Projekts den Vortrag der Kinder mit weiteren Musikstücken anreichern, die sie zum Teil auch mit Hilfe der Kinder, zum Teil aber auch ganz alleine präsentieren, verwandeln sie zudem die engagierten Jung-Musiker und Jung-Musikerinnen in Konzertbesucher und Besucherinnen, die möglicherweise auch geprägt von der eigenen musikalischen Darbietung nun umso aufmerksamer den erwachsenen Kolleginnen und Kollegen lauschen. Diese setzen zum Beispiel der Klangschicht Westend mit ihren Klanggeschichten eine Musik aus Bernsteins »West End Story« voraus, die entgegen jetziger politischer Behauptungen Amerika noch als Einwanderungsland beschreibt. Und natürlich passt das auch zum bunten Westend, dessen Bewohner auch einige Migrationsgeschichten erzählen könnten. Das Konzert ihrer Kinder erzählt indes die Geschichte vom vorbehaltlosen Zusammenleben, vom gemeinsamen Gestalten und von der Fähigkeit, sich als Musiker oder Musikerin gleichzeitig den anderen Musizierenden unterzuordnen und sich selbstbestimmt zu behaupten. So, wie die Kinder auch als Zuhörende das Phänomen erfahren, dass sie die Musik zugleich in ihrem gesamten Klang wahrnehmen und sich gleichzeitig auf einzelne Tonquellen im Zusammenspiel der Band konzentrieren können. Entsprechend ist gerade die musikalische Ausbildung eine großartige Vorbereitung auf das Zusammenleben in einer urbanen Gesellschaft, in der man sich auch immer wieder selbst behaupten und zugleich auch die Interessen der anderen Mitbewohner und Mitbewohnerinnen berücksichtigen muss.

Absolute Notwendigkeit

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Unglücklicherweise scheint das aber noch nicht zu den Verantwortlichen für die Planung der hiesigen Schulbildung durchgedrungen zu sein. Ansonsten wäre nämlich nicht zu erklären, mit welchem Kraftaufwand beispielsweise der Musikunterricht immer wieder gegen die sogenannten »harten« Fächer wie Mathematik oder Sprachen verteidigt werden muss. Andererseits ist auch nicht jeder Musikunterricht so spannend und vielschichtig wie der von Christian Mattick und seinem Team. Auffallend an diesem Team ist in der Tat, wie sehr es die Fähigkeit, gleichzeitig der Musik zuzuhören und selbst zu musizieren, dahingehend perfektioniert, dass es auch seinen Schülerinnen und Schülern nicht belehrend begegnet, sondern nur hier und da mal ein paar Ideen anregt. Der Gitarrist Tobias Weber betont darum auch nach seiner jahrelangen Mitarbeit bei Musik zum Anfassen: »Mit der Zeit lernst du auch loszulassen. Da entwickelst du neugierig ein Vertrauen in das, was die Kinder dir anbieten.« Und dann lächelt er zufrieden nach einem gelungenen Konzert in der vielleicht schönsten Konzerthalle Münchens, dem schwere reiter, weil wahrscheinlich wieder keiner mitbekommen hat, was für die Kinder die größte Herausforderung in ihrem Vortrag war. Bevor sie nämlich mit Aluminium beschichtete Rettungsdecken unterschiedlich erklingen ließen, hatten sich die Kinder nämlich unter jenen Decken versteckt. Jetzt hieß es, jede noch so kleine Atembewegung zu vermeiden, damit die Rettungsdecken nicht knisterten. Und auch das meisterten die Schülerinnen und Schüler mit sichtbarem Vergnügen.

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