Anne Fritsch und Silvia Stammen geben einen Überblick über die Premieren im Volkstheater, das bange den zukünftigen Kürzungen entgegensieht.

Volkstheater. Premieren im Herbst

Willkommen im Hotel des Grauens und an anderen seltsamen Orten

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Wer Single bleibt, wird in »The Lobster« in ein Tier verwandelt (v.l.: Luise Deborah Daberkow, Lorenz Hochhuth, Anne Stein) | © Marcella Ruiz Cruz

Eigentlich ist die Stimmung zu Beginn der neuen Spielzeit an den Theatern immer fröhlich­aufgeregt, doch in diesem Jahr gesellen sich Sorgen vor der Zukunft dazu. 16,8 Millionen Euro muss die städtisch geförderte Kultur in München 2025 sparen, heißt es, das sind neun Prozent des gesamten Kulturhaushalts. Allerdings hieß es, die Stadt müsste insgesamt drei Prozent sparen. Die Kulturinstitutionen finden es ungerecht, dass sie dreimal so viel beitragen sollen. Schließlich müssen sie sich bei Kürzungen zwischen Kunst und Personal entscheiden. Und wer soll die Kunst umsetzen, wenn die Mitarbeitenden fehlen? Und die freie Szene, die im Haushaltsjahr 2024 noch einigermaßen ungekürzt davonkam, wird es 2025 sicher auch treffen. Dabei arbeiten die meisten freien Künstler*innen sowieso auf der Grundlage von Selbstausbeutung. Genaues wird man aber erst nach dem Stadtratsbeschluss im Dezember erfahren. Doch die Angst fährt schon mit. Besonders auch bei Volkstheater und Kammerspielen. Bei der Spielplanvorstellung beklagte Volkstheater­Intendant Christian Stückl vor allem, dass die Institutionen nicht eingebunden würden, sondern von der Stadt Zahlen vorgesetzt bekämen, die sie dann umsetzen müssten. Nach Stückls Rechnung könnte das Volkstheater bis zu 2,9 von 19,45 Millionen Euro einsparen müssen. Das wären fast 15 Prozent. Die Dystopie zur Spielzeiteröffnung, »The Lobster«, hatte trotzdem Komik zu bieten.

THE LOBSTER
22., 30. Dez. | 19.30 Uhr

Eine Gesellschaft, die das Alleinsein verbietet. In der es nur Paare geben darf, die mindestens ein Merkmal gemeinsam haben. In der Singles in ein Hotel geschickt werden, wo sie 45 Tage Zeit haben, einen Partner oder eine Partnerin zu finden. Wer nach Ablauf der Frist noch alleine ist, wird in ein Tier verwandelt (immerhin in eines seiner Wahl). – Das ist die Ausgangslage im Film »The Lobster« von Yorgos Lanthimos und Efthimis Filippou aus dem Jahr 2015. Die obskuren Regeln dieser Gesellschaft werden von den Menschen in keiner Sekunde hinterfragt, sie sind Gesetz und werden akzeptiert. Es ist ein verstörend düsterer Film, in dem es weniger um Liebe oder gar so etwas wie Glück geht denn ums Funktionieren in einem rigoros unmenschlichen System.

Zum Spielzeitstart hat die Regisseurin Lucia Bihler das Drehbuch im Volkstheater auf die Bühne gebracht und sich optisch komplett von der Vorlage frei gemacht. Jessica Rockstroh hat eine pastellfarbene Bonbonwelt entworfen, ein Hotel des Grauens in Mintgrün, das seine Gäste offensiv mit der leuchtenden Forderung »Happily Ever After« begrüßt. Die Kostüme von Leonie Falke spiegeln den Konformismus: ein Kostüm für die Damen, eins für die Herren. Für Individualität ist hier kein Platz. An diesem Ort also landet David, den Paulina Alpen wirklich wunderbar spielt: diesen schüchternen, in seinem Körper unsicheren Mann, der von seiner Frau verlassen wurde und sich nun erneut auf die Suche nach einer Partnerin begeben muss. Denn: Allein sein ist nicht. Sein Bruder hat es nicht »geschafft«, er ist nun ein Hund, sein Begleiter. Doch wer hier könnte zu ihm passen? Die Frau mit den Butterkeksen, gespielt von Silas Breiding? Eher nicht. Die Frau mit dem Nasenbluten, gespielt von Anne Stein? Auch nicht. Wäre da noch die Frau ohne Gefühle, die Pauline Fusban derart unterkühlt spielt, dass einem das Frösteln kommt. Mit ihr versucht er es schließlich – Gefühle zu unterdrücken, das sollte doch machbar sein und als gemeinsames Merkmal durchgehen, oder? Spoiler: Ist es nicht.

David erlebt abstruse Clubabende, in denen auf der Hotelbühne vorgespielt wird, wie schrecklich oder gar tödlich das Singleleben ist, und Jagdrituale, bei denen die »Einzelgänger« im Wald hinter dem Hotel gejagt werden. Für jeden erlegten Einzelgänger wird einem ein zusätzlicher Tag im Hotel zugestanden. Lucia Bihler erschafft eine grelle artifizielle Welt auf der Bühne, in der ihr durchweg überzeugendes Ensemble in all seinen Facetten schillern kann. Gefühle übersetzt sie in Choreografie, das monströse Regelwerk dieser Gesellschaft in starke Situationen. Eine Dystopie, verpackt in Zuckerwatte.

Als David merkt, dass er hier nicht gewinnen kann, flieht er in den Wald zu den Einzelgängern. Doch die vermeintliche Anarchie im Untergrund ist nur eine andere Spielart eines absolutistischen Systems. Denn hier ist die Liebe beziehungsweise Partnerschaft keine Pflicht: Hier ist im Gegenteil jede Form von Zuneigung unter drakonischen Strafen verboten. »Wir tanzen alle für uns allein, drum spielen wir nur elektronische Musik«, wird David aufgeklärt. Es folgt ein düsterer, absurder Tanz der Vereinzelten. Eine Gesellschaft, in der sich jede*r im wahrsten Sinne des Wortes sein eigenes Grab schaufelt. Dieser heiter­abgründige Abend nimmt sein Publikum mit auf eine Reise in die Dunkelheit des Absoluten, der Unfreiheit und Entindividualisierung. Was da vor sich geht, ist keine Sekunde langweilig und oft sogar auf düstere Art unheimlich komisch. || ANNE FRITSCH

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Ruth Bohsung, die masochistisch treue Seele Reva, und Liv Stapelfeldt als namenlose Drahtzieherin des somnabulen Selbstversuchs »Mein Jahr der Ruhe und Entspannung« © Gabriela Neeb

MEIN JAHR DER RUHE UND ENTSPANNUNG
21., 22. Dez. | 20 Uhr

FÜNF MINUTEN STILLE
12., 20 Dez. | 20 Uhr
15. Dez. | 19.30 Uhr

Eine Auszeit – ob kurz oder lang –, die wünscht man sich heute von vielem, dem Krieg, dem Klimawandel, dem wachsenden Rechtsruck, der Angst und der Mutlosigkeit in vielen Bereichen. Aber was wäre damit gewonnen? Mehr Resilienz, frischer Schwung, neue Ideen? Oder steckt dahinter nur die eskapistische Sehnsucht, sich selbst auf die innere Insel zu retten und den Rest eine Zeit lang zu vergessen?

Solchen Fragen widmen sich im Münchner Volkstheater gleich zwei neue Produktionen: »Mein Jahr der Ruhe und Entspannung« heißt der gefeierte Roman der amerikanischen Autorin Ottessa Moshfegh aus dem Jahr 2018, der den radikalen Rückzug einer jungen Frau von der Außenwelt mittels medikamentös herbeigeführten Dauerschlafs als Überlebensstrategie durchspielt. In der Fassung von Regisseurin Katharina Stoll und ihrem Dramaturgen Leon Frisch ist er nun als deutsche Erstaufführung mit Liv Stapelfeldt in der Rolle der kühl kalkulierenden Drahtzieherin des somnambulen Selbstversuchs auf Bühne 2 zu sehen. Auf der kleinen Bühne 3 haben sich vier Mitglieder des Ensembles – Jan Meeno Jürgens, Steffen Link, Anne Stein und ebenfalls Liv Stapelfeldt – den neuen Stücktext des Schauspielers und Dramatikers Leo Meier »5 minuten stille« vorgenommen und dabei einen lang gehegten Traum erfüllt, einmal ganz selbstbestimmt im Kollektiv und ohne externe Regie eine Inszenierung zu entwickeln. Ein Vorhaben, von dessen Erfolgspotenzial sich Intendant Christian Stückl nach anfänglichen Vorbehalten dann doch überzeugen ließ – zu Recht, denn das Ergebnis hält zwar nicht, was der Titel verspricht, macht aber auf gewitzte Weise ziemlich gute Laune.

Bartlebys Schwester

Schauplatz von Moshfeghs Roman ist ein New York vor 9/11, als »Sex and the City« und der Kunstmarkt boomten und das Ende der Geschichte im Partyund ungetrübten Kaufrausch erreicht schien. Die namenlose Ich-­Erzählerin, jung, gut aussehend und gebildet, arbeitet in einer angesagten Galerie und befindet sich trotz mittelgroßer Erbschaft und Eigentumswohnung in bester Lage in einer autosuggestiven Abwärtsspirale. Warum, ist ihr selbst nicht ganz klar. Womöglich hat es mit dem Tod der Eltern zu tun – der Vater Krebs, die Mutter Alkohol und Tabletten –, dem unverbindlichen Liebhaber Trevor oder auch mit einer grundsätzlichen Intoleranz gegenüber ihrer sozialen Umgebung.

Konsequent zieht sie sich von allen lösbaren Aufgaben zurück, vernachlässigt Job, Körperpflege und Freundeskreis einschließlich der überaus strapazierfähigen Reva und lässt sich von der mindestens ebenso neurotischen Therapeutin Dr. Tuttle immer stärkere Downer verschreiben. Denn nur Schlafen verspricht Freude und Freiheit von schlechten Gefühlen: »Ich habe keine Visionen. Ich habe keine Ideen«, verkündet die Protagonistin zu Beginn, während sie bereits mit verfilzter Hochfrisur wie zugedröhnt über die Bühne kriecht. »Ich schlafe einfach für mein Leben gern.«

Die Welt der zutiefst misogynen Narzisstin, in die man sich bei der Lektüre dank des sachlich­selbstbewussten Tonfalls überraschend leicht hineinziehen lässt, wirkt, auf der Bühne dargestellt, allerdings etwas überzogen, zwischen bizarrer Farce und aseptischem Minimalismus schwankend. Eine Atmosphäre wie im Inneren eines Kühlschranks haben die Kostüm­ und Bühnenbildnerinnen Wicke Naujoks und Anna Wörl geschaffen. Der öffnet sich auch buchstäblich als Teil der u­förmig um eine spiegelnde Spielfläche angeordneten weißen Stellwände und verbirgt in seinem Innern nicht viel mehr als neonbeleuchtete Leere, vor der Liv Stapelfeldt trotzig, verloren und zunehmend verzweifelt herumlungert. Besuch kommt in Gestalt der masochistisch­treuen Reva – Ruth Bosung als hoffnungslos verpeiltes Fashion Victim –, von Pia Amofa­Antwi als aufreizend gut gelaunter Dr. Tuttle und Alexandros Koutsoulis als bräsigem ExBoyfriend, der bis auf ein begehbares Riesenplüschherz wenig zu bieten hat. Dazwischen geistern unnahbar in glänzendem Metallic­-Look die toten Eltern und ein exaltierter Jetset­Artist, der den Winterschlaf als eigene Kunstaktion vermarkten will.

Das unbändige Bedürfnis der Romanfigur, sich wie eine entfernte Schwester von Melvilles Bartleby aus allen sozialen Gefü­gen hinauszukatapultieren, erscheint so allerdings eher wie die Schrulle einer durchgeknallten Großstadtneurotikerin als wie ein existenzieller Impuls. Nicht immer bietet die theatrale Draufsicht von außen mehr Facetten als eine entschieden subjektive Perspektive beim Lesen.

Ruhestifter beim Boxenstopp

Als eine Art Sketch in Überlänge, der seine Dynamik aus skurrilen Pingpong­Dialogen zu Zeitgeistthemen und einer allgemeinen emotionalen Verunsicherung bezieht, besticht Leo Meiers »theaterstück für drei sehr gute schauspieler:innen und einen zombie« dagegen vor allem durch Temperament und Timing der regieführenden Besetzung. »Könnten wir bitte alle mal kurz still sein?«, fragt Jan Meeno Jürgens mit sanftem Therapeutenton ins Publikum, um sich sofort mit allerlei Betulichkeiten selbst dabei zu sabotieren, bis die Kolleg*innen, allesamt ambitionierte Ruhestifter in schnittigen Formel­1­Overalls (Bühne und Kostüme: Emil Borgeest) für weitere Dauerunterbrechungen sorgen.

Dass in den ersten Vorstellungen hauptsächlich Jürgens, Link und Stapelfeldt auf der Bühne sind, während Anne Stein als Outside Eye erst gegen Ende einen Cameo-­Auftritt als Zombie hat, kann sich auch noch mal ändern und wird dann von allen mit einander entschieden werden. Fürs Erste aber platzt Link geradezu vor Mitteilungs­- und Rechtfertigungsdruck, während manchmal Stapelfeldt sarkastisch auf die Bremse tritt. Es geht um die krampfhafte Suche danach, »was uns weiterbringt«, gegenseitige Beleidigungen mit wunderbaren Worten wie »Hodenkobold« für rasante SUV­-Fahrer, aber auch um den tief sitzenden Schmerz ungestillten Geltungsdrangs, zielloses Sendungsbewusstsein und eine unbestimmte Furcht vor »denen da draußen«, vor denen man sich hinter einer Art Schleuse mit Garagentor verbarrikadiert hat. Und doch wächst aus kleinen leuchtenden Momenten wie dem Gedicht auf eine namenlose Meise auch die Hoffnung, dass es zusammen immer einen Weg geben wird und man auf die Führungsposition durchaus einmal verzichten kann. || SILVIA STAMMEN

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Liv Stapelfeldt, Steffen Link Jan Meeno Jürgens | © Lukas Stüwe

Volkstheater | Tumblingerstr. 29 | Tickets: 089 5234655 | Website

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