Regisseur Stefan Pucher gibt auch der Witzigkeit in Herman Melvilles weltuntergangstrunkenem »Moby Dick« Raum.
Moby Dick
Die Straße der Walkadaver
Immer lauter werden die immer dringlicheren Diskussionen über einen jetzt schon spürbaren Klimawandel und dessen mögliche Folgen für die Menschheit. Da nimmt es nicht Wunder,wenn aktuell allein in Deutschland gleich mehrere Schauspielhäuser wie auch das Münchner Residenztheater Herman Melvilles Roman »Moby Dick« auf die Bühne zu bringen versuchen. Schließlich diskutierte der Autor darin schon 1851 mögliche Auswirkungen der Industrialisierung auf die Natur am Beispiel des Walfangs. Vor der Entdeckung fossiler Energieträger wurde das Öl für die Maschinen nämlich erlegten Walen entnommen. Weil zudem auch das Öl für die Beleuchtung aus eben jenen Walkadavern gewonnen wurde, wies schon Melville auf das Dilemma hin, dass selbst die Gelehrten, die schon damals den Walfang als Zerstörung der Natur kritisiert hatten, trotzdem auch von ihm abhängig waren.
Wenn nun aber in Stefan Puchers Inszenierung von »Moby Dick« auch Walkadaver in KI-generierten Filmzuspielungen auf Straßen inmitten von Großstädten liegen und im Zeitraffer zerfallen, symbolisiert der ohnehin vom Aussterben bedrohte Meeressäuger längst nicht nur die zerstörte Natur durch die Menschheit, die nun also mit den entsprechenden Folgen weiterleben muss. Der Zerfall jener Wale in den Städten könnte auch den Zerfall der Menschheit selbst andeuten, die wie jener besessene Kapitän Ahab und seine Crew letztlich vom Wal in die Tiefe gezogen wird. Weil aber jeder Versuch, Melvilles stilistisch sehr ausufernde Schrift auf die Bühne zu bringen, allein schon an deren vielen philosophischen, dokumentarischen und naturwissenschaftlichen Exkursen scheitern muss, könnte »Moby Dick« letztlich auch die Inszenierung am Residenztheater in die Tiefe ziehen. Es ist darum nur folgerichtig, wenn der berühmte Eingangssatz des Romans, »Nennt mich Ismael!«, erst gegen Ende seiner Theateradaption erwähnt wird. Wenn das Stück nämlich mit dem ursprünglichen Anfang des Romans endet,wirkt das, als ob den Theaterbesuchern nach einer gut zweistündigen Inszenierung von Melvilles Meisterwerk nun die Lektüre desselben empfohlen würde.
Doch dank der großartigen Musik von Christopher »Krite« Uhe, der schon mit Indierockbands wie Speed Niggs und Locust Fudge brillierte, und dank des spektakulären Bühnenbildes von Barbara Ehnes, gelingt Pucher mit »Moby Dick« am Ende doch mehr als nur eine unterhaltsame Leseempfehlung. Pucher, der die Rolle des Ahab einmal mehr mit einer starken Barbara Horvath besetzt hat, hebt auch humorvolle, geradezu witzige Stellen in »Moby Dick« hervor. Sei es die geradezu clowneske Einführung ins Stück durch Simon Zagermann und einen urkomischen Max Mayer, die dem Publikum einen Knoten erläutern. Oder sei es jene Szene, in der abermals Zagermann, diesmal zusammen mit Thomas Lettow und Florian von Manteuffel sich übertrieben aphrodisiert vom Spermazet eines Wals mit eben jener glibbernden Substanz einreiben. Irrwitzig wird zudem John Hustons legendäre 1956er Verfilmung mit Gregory Peck persifliert. Das Drehbuch zum Film hatte damals der Schriftsteller Ray Bradbury neu gedichtet, der schon für seinen Science-Fiction-Roman »Fahrenheit 451« gefeiert wurde. Für Puchers Theateradaption nutzen er, Malte Ubenauf und Ewald Palmetshofer ausschließlich die von Melville formulierten und von Mathias Jendis übersetzten Originalsätze aus »Moby Dick oder: Der Wal«. Wie aber auch hier die Reihenfolge verkehrt wird, gleicht das mehr einer Neukomposition als einem neuen Arrangement. Und als solche Neukomposition geht dieser »Moby Dick« dann eben doch nicht unter!
MOBY DICK
Residenztheater | 8., 12., 18. Mai, 2., 11., 26. Juni | 19.30 Uhr | (So 18.30 Uhr) | Tickets: 089 21851940
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