Mit der Ausstellung »Glitch« nimmt die Pinakothek der Moderne die Kunst der Störung in den Blick.

»Glitch« in der Pinakothek der Moderne

Störung als künstlerisches Prinzip

glitch

Pipilotti Rist: »I’m Not the Girl Who Misses Much« 1986 | 1-Kanal-Video | Sammlung Goetz München © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Courtesy the artist, Hauser & Wirth und Luhring Augustine

Ein tägliches Ärgernis: die Technik. Wir erwarten, dass sie funktioniert. Darüber nachdenken oder gar sich damit näher auseinandersetzen – bitte nicht. Die wenigsten von uns sind so technikaffin, dass sie die Behebung einer Störung als Sport begreifen. Es sei denn, sie sind Künstler*in. Bereits in den Anfängen der analogen Bildund Tonmedien haben Künstler*innen in der technischen Fehlfunktion einen ästhetischen Reiz erkannt, was sie bis heute zur kreativen Auseinandersetzung animiert: die verwackelte Fotografie, der körnige Bildabzug, die Bildstörung des Fernsehgeräts, das Knistern im Radio, bis hin zu den verpixelten oder eingefrorenen Computerbildern, zerkratzten Handydisplays und verzerrten Bewegtbildern unserer Tage. Manch Fehler entwickelt ungewollt seinen Reiz, die meisten Resultate sind aber beabsichtigt, bewusst erzeugt oder programmiert. Das Unperfekte, speziell die Störung, wurde zum künstlerischen Prinzip erhoben, bis sich schließlich eine ganze Kunstrichtung herausbildete: Glitch Art.

Der Begriff »Glitch«, der sich von »glitschen« ableitet, wurde bereits in den 50er Jahren als Fachterminus für das unerwartete Ergebnis einer technischen Fehlfunktion verwendet. Als Bezeichnung für digitale Fehler ging er dann in den 70er Jahren mit der Entwicklung der Computerspiele in den allgemeinen Sprachgebrauch über. Parallel zur Verbreitung der digitalen Bildtechnologien in den 90er Jahren entstand schließlich die Glitch Art, die heute zu den jüngsten und überraschendsten künstlerischen Konzepten zählt.

Wer wüsste das besser als der Künstler und Medientheoretiker Peter Weibel? Das Wirken des jüngst verstorbenen, langjährigen Leiters des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medien wird gleich am Eingang zur Ausstellung mit seinem Video »The Endless Sandwich« von 1970/72 gewürdigt – und damit zugleich ein medienkritisches Statement gesetzt: Man sieht Publikum wie hintereinander gestaffelte Dominosteine vor Fernsehern sitzen. Das zuletzt gezeigte Gerät zeigt eine Störung, die sich nach vorne fortsetzt, bis sie das reale Gerät erreicht: Fernsehen als »System der viralen Verbreitung von Störungen« (Peter Weibel).

Während in den Anfängen der Fotografie Fehler in sogenannten »Fotofehlerbüchern« noch streng geahndet wurden, erkannten die Künstler*innen des 20. Jahrhunderts darin das Potential. Neben Erwin Blumenfeld und seinen gekörnten Silbergelatineabzügen (ab 1940) über die abstrakten Zufallsergebnisse nach Materialmanipulationen von Chargesheimer (50er Jahre) und Sigmar Polke (1982/84) bis hin zu Gottfried Jäger und seinen »Falsifikaten« (1992) – absichtlich hervorgerufene Fotofehler mit ihren anschaulichen Bezeichnungen – ist in Kapitel eins eine Fülle an internationalen Beispielen aus der Geschichte der Fotografie ausgebreitet.

Im größeren Format geht es weiter, wenn im nächsten Kapitel der absichtliche Kontrollverlust computerbasierter Medien veranschaulicht wird. In einer wandfüllenden Installation aus Videoscreen, Wandtapeten und Sound (2010) appelliert die niederländische Künstlerin Rosa Menkman, das statische Konzept der Informationsübertragung zu unterbrechen: »Lasst die gängigen Handlungsanweisungen hinter Euch und schließt Euch der Avantgarde des Unbekannten an. Werdet Nomad*innen der Störsignale!«. Walter Ebenhofer lässt Großdiapackungen mit einer Armbrust beschießen, und zeigt das auf diese Weise gewaltsam belichtete Material (2012–2023). Barry Stone verändert die Bildcodes seiner Landschaftsfotografien so, dass »produktive Glitches entstehen, um das veränderliche Wesen der Gezeitenlandschaft widerzuspiegeln« (Barry Stone, 2016).

Verborgenes wird in den Arbeiten im dritten Kapitel sichtbar gemacht. In dieser Sektion wird technische Anwendung manipuliert, um neue Bild- und Tonwelten zu kreieren. So kann man via Smartphone und QR-Code die virtuelle Skulpturengruppe von Fabian Hesse und Miriam Wakil im Raum sichtbar machen (2015–2023). Die französische Künstlerin Mame-Diarra Niang lässt durch Verzerrungen von »Google Street View«-Ansichten neue Realitäten entstehen (2020). Und die Irin-Maya Dunietz hat für ihre Soundinstallation »Air Sculpture 1« (2013) Tonaufnahmen so bearbeitet, dass die Illusion eines sich ständig verändernden Raums entsteht.

Die Arbeiten in Kapitel vier zeigen, dass hinter der künstlerischen Anwendung von Glitches von Beginn an nicht nur das ästhetische Vergnügen an technischen Spielereien stand, sondern in erster Linie kritische Intentionen: technische Störung als Äquivalent zu gesellschaftlichen Missständen und politischen Konflikten. Eine der früheren Videoarbeiten von Pipilotti Rist, »I’m Not the Girl who Misses Much« (1986) zeigt in stark verzerrter Darstellung die Künstlerin, wie sie in einem Akt der Selbstermächtigung den Beatles-Song »Happiness is a warm gun« mit der auf sich gemünzten Textzeile nachsingt. »Bei der Arbeit mit Analogvideo fiel mir auf, dass die Störungen, die etwa beim Spulen entstanden, näher an meiner inneren Welt waren als die flüssigen Bilder, die wir als fehlerlos beschreiben.«

2008 entstand das »antidokumentarische Beweisfoto« von Broomberg & Chanarin: eine sechs Meter lange Bahn Fotopapier, die mitten im afghanischen Kriegsgebiet nur kurz von der Sonne belichtet wurde. »Es war uns nicht wichtig, wie die Bilder aussahen – maßgeblich war für uns, dass sich das Papier physisch an genau diesem Ort befunden hat.« Authentizität versus Reproduzierbarkeit.

Nach 50 künstlerischen Positionen aus 100 Jahren endet der dichte Ausstellungsparcours von Kuratorin Franziska Kunze effektvoll vor einer Art digitalem Spiegelkabinett von William Forsythe (2000): Zu aller Vergnügen kann sich das Publikum hier selbst zum Glitch machen. ||

GLITCH. DIE KUNST DER STÖRUNG
Pinakothek der Moderne (Saal 21–26) | Barer Str. 40 | bis 17. März | Di bis So 10–18, Do 10–20 Uhr | der schöne Katalog (DISTANZ Verlag, 292 Seiten, 191 Abb.) kostet 42 Euro | weitere Termine

Weitere Besprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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