Edgar Reitz’ »Heimat«-Star Henry Arnold spielt »Novecento« im Hofspielhaus und bringt die Pianosaiten zum Glühen.

Novecento

Die Unendlichkeit in 88 Tasten

novecento

Henry Arnold erzählt als Tim die Geschichte vom Ozeanpianisten | © Foto Tobias Melle

Sein gesamtes Leben am selben Ort zu verbringen und trotzdem ständig auf Reisen zu sein: Dieses Paradox lebt der Ozeanpianist. Ihn hat der italienische Schriftsteller Alessandro Baricco 1994 erfunden, als Protagonisten des Theatermonologs »Novecento«. Am 1. Januar 1900 wird auf dem Passagierschiff »Virginian« ein Säugling in einem Zitronen­-Pappkarton entdeckt. Man gibt ihm die Vornamen Danny Boodman (nach seinem Finder) und T.D. Lemon (nach dem Kartonaufdruck) sowie den Familiennamen Novecento – 1900. Der schwarze Maschinist Danny zieht ihn auf dem Dampfer groß. Nach Dannys Tod entpuppt sich der junge Mann als hochtalentierter Klavierspieler, der künftig die Gäste musikalisch unterhält. Er wird weltberühmt, weigert sich aber beharrlich, je das Schiff zu verlassen. Das Draußen macht ihm Angst. Nach 1945 soll die ausgemusterte »Virginian« gesprengt werden. Novecentos früherer Kollege, der Trompeter Tim, will ihn bewegen, sich in Sicherheit zu bringen.

Dieser Tim erzählt die Lebensgeschichte seines Freundes und schlüpft in alle anderen Rollen. Ihn verkörpert im Hofspielhaus der Schauspieler und Musiker Henry Arnold. Manche werden sich an ihn aus Edgar Reitz’ »Heimat«­-Saga erinnern: In »Die zweite Heimat« (1992) und in »Heimat 3« (2004) spielte er den Komponisten und Dirigenten Hermann Simon. Geboren 1961 im Hamburg, verbrachte Henry Arnold seine ganze Schulzeit in München, studierte hier Germanistik und Musikwissenschaft sowie Schauspiel bei Ali Wunsch­-König. Auf der Bühne war er in München aber nur 1984 am Volkstheater in zwei kleinen Rollen zu sehen – noch als Student. Dann ging’s ins erste Engagement nach Göttingen, später ans Schillertheater Berlin und ans Schauspielhaus Zürich. Gedreht wurde »Die zweite Heimat« zwar 1988 bis 1991 hauptsächlich in München, aber da war sein Wohnsitz schon in Berlin, wo er auch noch Volkswirtschaft und Dirigieren studierte. Das konnte er jetzt wieder brauchen: Für den Film »Der Informant« trat er vor Kurzem zwei Tage als Dirigent in der Hamburger Elbphilharmonie auf, erzählt er nicht ohne Stolz.

Seine Filmkarriere nahm schnell Fahrt auf, er drehte in Italien (u.a. mit Marco Bellocchio) und in Japan. Das Fernsehspiel »Ausgerechnet Zoé« brachte ihm als Darsteller einen GrimmePreis ein. Doch er vernachlässigte das Theater nicht, spielte in Berlin, Hamburg, viel bei den Freilichtspielen in Schwäbisch-Hall und arbeitete sogar mit dem für seine Skandale berüchtigten Regisseur Paulus Manker in Wien. Da habe es schon mal ordentlich gekracht, räumt Arnold grinsend ein. Seit 1996 inszeniert er selbst, von Berlin bis Regensburg, Schauspiel ebenso selbstverständlich wie Oper. Denn die Musik war von Anfang an seine zweite Leidenschaft. Bereits als Gymnasiast studierte er als Gast Klavier an der Musikhochschule. Für den Regisseur Hans Neuenfels übernahm er drei Mal die Dramaturgie: bei dessen Bayreuther »Lohengrin« 2010 (der mit den Laborratten), für Enescus »Oedipe« 2013 an der Oper Frankfurt, und an der Münchner Oper 2016 für »South Pole«. Bei Neuenfels habe er das Regiehandwerk gelernt, sagt Arnold. Was er zuletzt in Bregenz mit »Fidelio« und »La Clemenza di Tito« bewies. Ab und zu ist er auch sein eigener Autor, hat insgesamt schon sechs Eigenproduktionen in Gießen und Berlin herausgebracht. Gibt esetwas, was das mehrsprachige Künstlertalent nicht kann?»Malen tu’ ich nicht«, ist die entschiedene Antwort.

»Novecento« hat ihm der Regisseur Georg Büttel vorgeschlagen – man kennt sich schon lange aus Schwäbisch­-Hall. Im Sommer begann die Arbeit, geprobt wurde mit Abständen in kürzeren Abschnitten, weil Henry Arnold viel beschäftigt und unterwegs ist. Bariccos Text findet er toll: »Da steckt viel Philosophisches drin, auch die Beschäftigung mit dem Tod.« Ein Flü­gel und ein großer Seekoffer reichen als Bühnenbild, so kann die Produktion auch reisen. Als Tim sei er Erzähler, aber die anderen Figuren spiele er wirklich, erklärt Arnold: »Ich gehe richtig in sie rein, da muss man sehr genau arbeiten. Das hat in der Technik fast etwas Kabarettistisches.« Dass er Teile der Musik, die Ennio Morricone für Giuseppe Tornatores Verfilmung 1998 schrieb, live spielt, versteht sich von selbst.

Mit Flügel und Seekoffer

Mit »Novecento« ist Hofspielhaus-­Chefin Christiane Brammer und Regisseur Georg Büttel ein großer Coup gelungen: Sie konnten den Schauspieler Henry Arnold erstmals seit Langem auf eine Münchner Bühne locken. Mit dem Solo könnte Henry Arnold Säle füllen, aber das kleine Kellertheater mit seinen 60 Plätzen biete die richtige Intimität für die wunderbar absurde und am Ende todtraurige Geschichte des fiktiven Ozeanpianisten Novecento, sagt Arnold. Er spielt Novecentos Freund Tim als Strizzi, der nichts Rechtes mit seinem Leben anzufangen weiß, eine verkrachte Existenz. Aber ein blendender Erzähler, der mühelos fast parodistisch Matrosen und Passagiere charakterisiert. Im Seekoffer steckt Garderobe für blitzschnelle Rollenwechsel. Dank Arnolds Charme und Präsenz ist die erste Stunde hochkomödiantisch. Höhepunkt: das Piano-­Duell mit dem selbst ernannten Jazz­-Erfinder Jelly Roll Morton. Erst lässt er den Angeber auflaufen, dann bringt er die Saiten des Flügels so zum Glühen, dass er sich daran eine Zigarette anzündet (funktioniert nicht ohne Zauberberatung). Neben der Musik Morriconess spielt er live auch Ragtimes von Scott Joplin.

Nach der Pause ist auch nach dem Weltkrieg: Novecento hat sich sich im Schiff versteckt, das nun gesprengt werden soll. Tim sucht ihn auf. Da spricht Novecento erstmals selbst, sehr philosophisch. Wie er sich nach und nach alle Wünsche, etwa nach Liebe, versagt habe: »Ich werde nie mehr unglücklich sein.« Warum er seinen einzigen Versuch, von Bord zu gehen, abgebrochen hatte – in Büttels Inszenierung ein Gänsehaut-Moment. Die Unendlichkeit draußen war zu groß. Novecentos Unendlichkeit liegt in 88 Tasten. Ein wunderbarer, komischer und nachdenklicher Abend. ||

NOVECENTO: DIE LEGENDE VOM OZEANPIANISTEN
Hofspielhaus | Falkenturmstr. 8 | 9., 13., 14. Dez., 12., 14. Jan. | 20 Uhr | Tickets: 089 24209333

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