Elegance Bratton erzählt in seinem beeindruckenden Spielfilmdebüt »The Inspection« die eigene Lebensgeschichte als schwuler Rekrut beim United States Marine Corps.

The Inspection

Bootcamp fürs Leben

the inspection

Von der Obdachlosigkeit zum Militär: Ellis French (Jeremy Pope) mit Drill Sergeant Rosales (Raúl Castillo) © Patti Perret / A24 / X Verleih

Die Lebensgeschichte des US-amerikanischen Filmemachers Elegance Bratton ist eine jener Erzählungen, die zu unwahrscheinlich klingen, um wahr zu sein. Und dennoch ist sie es. Sie beginnt in den Straßen New York Citys und zahlreichen anderen Gemeinden an der Ostküste, in denen Bratton als Obdachloser lebte, bevor sein Leben sich in einer Weise wandelte, dass es fast schon nach einer Verfilmung schrie.

Diesen Film hat Elegance Bratton nun tatsächlich gedreht. »The Inspection« lautet der Titel des Dramas, das beim Filmfest München im Juni seine umjubelte Premiere feierte, bei der Bratton als Regisseur selbst zugegen war. Als »Schwarzen, schwulen Rocky« bezeichnet Bratton seinen Film, der im August bei seinem Kinostart endlich auch einem größeren Publikum zugänglich sein wird. Es ist die erste fiktive Arbeit nach einigen dokumentarischen Ausflügen wie zuletzt »Pier Kids«, das sich im Jahr 2019 dem Leben der queeren, schwarzen Community am Christopher Street Pier in Manhattan widmete. »Ich habe das, was ich filmische Legasthenie nenne, da ich persönlich keinen Unterschied zwischen Dokumentar- und Spielfilm sehe«, verrät der 44-jährige Filmemacher bei einem Interviewtermin während des Filmfests auf die Frage nach seiner künstlerischen Herangehensweise. »Es gibt eine Art improvisatorisches Element in meiner Arbeit als Geschichtenerzähler, das die Grenze zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktionalen verwischt.«

Von diesem Verwischen der erzählerischen Grenzen kann sich das Publikum nun auch im Kino ein Bild machen. Wie auch im echten Leben beginnt die Erzählung in den Straßen der US-Metropole am Hudson River, wo der junge Afroamerikaner Ellis French zu Hause rausfliegt, weil er homosexuell ist. Um der Gewalt, den Drogen und der Perspektivlosigkeit zu entgehen, die die Obdachlosigkeit mit sich bringt, beschließt French einen radikalen Bruch: Er schreibt sich beim Militär ein. Und nicht in irgendeiner Einheit, sondern der Elitetruppe des US-Militärs schlechthin, den Marines.

Wie auch die Story von Brattons Protagonist Ellis (Jeremy Pope) führte die eigene Lebensgeschichte den Regisseur von der Straße und dem Lotterleben in die Hölle desBootcamps, das nur eine Logik kennt, die des bedingungslosen Gehorsams. Man könnte meinen, dass Bratton sich beim Militär schwertat, doch über seine Einführungszeit sagt er: »Ich mochte das Bootcamp eigentlich. Ich mochte es sehr, auch wenn es emotional sehr aufwühlend war.« Bratton war Zeit seines Lebens auf Ablehnung aufgrund seines Schwulseins gestoßen – eben für das, was er war. Beim Militär reüssierte er aufgrund seiner angeborenen Fähigkeiten. »Wir wurden gezwungen zu laufen, Klimmzüge und Liegestütze zu machen. Und Mann, war ich schnell. Und ich war so stark wie die anderen, wenn nicht gar stärker als die meisten. Diese Erfahrung war wirklich ermutigend für mich.«

Der Ehrgeiz seiner Hauptfigur speist sich in Brattons Film zum einen aus der Ambition, sich selbst etwas beweisen zu wollen, vor allem aber einem anderen Menschen. Im Film sagt die Mutter des Protagonisten, gespielt von Gabrielle Union, zu ihrem Sohn den niederschmetternden Satz: »Ich werde dich bis zum Tag meines Todes lieben. Aber ich kann nicht lieben, was du bist.« Bratton hat seinen Film »The Inspection« seiner Mutter gewidmet, die dessen Premiere 2022 bei den Filmfestspielen von Toronto nicht mehr erleben durfte. Sie starb, bevor der Sohn ihr den Film zeigen konnte. Elegance Bratton spricht schonungslos offen über den Schmerz seines Verlustes, genauso offen, wie sein Film auch die haarsträubend homophoben Seiten innerhalb des US-Militärs thematisiert. »The Inspection« spielt während der »Don’t ask, don’t tell«-Ära der Streitkräfte, ein öffentliches Bekenntnis zu seiner Homosexualität hätte den Rekruten ausseinem Job befördert. Seitdem hat sich, was die Anerkennung queerer Existenzen angeht, viel verändert in den USA allgemein, aber auch bei den Streitkräften. Bratton sieht das Emanzipationsbestreben jedoch als fortgesetzten Akt, der sich nicht mit einer veränderten Gesetzgebung zufriedengeben kann. »Die Änderung von Gesetzen ist nur ein Schritt in diesem Prozess. Man kann ein Gesetz ändern, aber das ändert nicht zwingend auch die Kultur, die Diskriminierung möglich macht. Das Marine Corps ist ein Mikrokosmos Amerikas. In der Hälfte des Landes darf man in Schulen nicht das Wort ›schwul‹ sagen. Florida verbietet queere Bücher in Schulbibliotheken. Also, wissen Sie, Gesetze zu ändern ist eine Sache. Kulturen zu verändern, ist eine ganz andere Sache.«

»The Inspection« handelt von einer transformativen Erfahrung, einer die weit über das Unmittelbare hinausreicht. Und so erzählt das Militärdrama vom Coming-of-Age eines Mannes, der trotz herausragender Leistungen schlussendlich nicht beim Militär Fuß fasst, sondern seine Dienstzeit bei den Marines nutzt, um sich das Handwerkszeug als Dokumentar- und Spielfilmregisseur draufzuschaffen. Unmittelbar nach seiner Zeit beim Militär schrieb sich Bratton in das Filmprogramm an der Columbia University ein und formte seinen Stil an der Tisch School of the Arts der NYU.

Bratton ist das lebende Beispiel dafür, welche Potenziale in Menschen schlummern können, die auch in unserer Gesellschaft kaum wahrgenommen werden. Existenzen, die, wie man sagt, irgendwie »durchs Raster gefallen sind«, so als wäre die wahnhafte Phase unserer Wirtschaftsform und deren aberwitzige Anforderungen, unter denen Mensch und Planet mittlerweile ächzen, eine Form von Naturgesetz. Elegance Bratton wird jedenfalls nicht der einzige obdachlose Jugendliche mit ungeheurem Talent in den Straßen seiner Heimatstadt gewesen sein. Auf die Frage, was ihn am meisten in seiner Zeit beim Militär geprägt habe und was davon er in sein späteres Leben mitgenommen habe, antwortet der heute gemeinsam mit seinem Ehemann in Baltimore lebende Regisseur: »Was mich nach meiner Karriere bei den Marines beeindruckt hat, war, dass ich mich überall wohlfühlen kann. Dass ich nicht nur in einer Schwulenbar befreit leben kann. Ich muss nicht unbedingt Frauenkleider tragen. Ich muss nicht auf einem Ball tanzen, um einen Platz in der Welt zu haben. Ich kann gehen, wohin ich will, und ich kann mich entfalten, wo immer ich es für richtig halte. Das hat mich das Marine Corps gelehrt.« ||

THE INSPECTION
USA 2022 | Buch & Regie: Elegance Bratton | Mit: Jeremy Pope, Gabrielle Union, Raúl Castro, Bokeem Woodbine | 95 Minuten | Kinostart: 24. August | Website

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