Künstliche Schönheit: Die von organischen Formen inspirierten Arbeiten von Keiyona Stumpf präsentiert das Nationalmuseum inmitten seiner barocken Kostbarkeiten.

Keiyona Stumpf

Bizarre Gewächse

keiyona stumpf

»Shrine« von Keiyona C. Stumpf (2022), in Saal 38 neben Porzellanservice mit Augsburger Golddekor China, Meißen, um 1700/20 und Augsburg, Seuter-Werkstatt, um 1732 | © Bayerisches Nationalmuseum Foto: Bastian Krack

Lauchstangen und Salatblätter, Krabbenbeine und Tintenfischsaugnäpfe: In die Arbeiten von Keiyona Stumpf finden auch auf den ersten Blick weniger romantische Naturformen Eingang. In sich gedrehte, knallrote Würste winden sich hier wie blutige Nabelschnüre um eine Form, die ansonsten aussieht wie ein Rüschenkleid. An anderer Stelle rinnt die Glasur in Kaskaden von einer Keramikskulptur herunter und bildet am Boden eine kleine Pfütze. Die 1982 geborene Münchner Künstlerin Keiyona Stumpf arbeitet meist in Porzellan oder Keramik, manchmal aber auch mit Kunststofffolien oder Glas. Doch egal welches Material, alle Stücke sind geprägt von einem großen Staunen über die Schönheit und Komplexität der Natur – aber eben nicht nur über die Schönheit einer idealtypischen, perfekt geformten Blume, sondern auch über die Stadien vor und nach der Blüte. Stumpf geht es nicht um Nachahmung einzelner Naturformen, sondern um die Energie der Natur, um das Quellende, Emportreibende einer Knospe, genauso wie um den Zustand der Auflösung, des Erschlaffens, Verwelkens.

Auf den ersten Blick wirken ihre aus vielen Formen zusammengesetzten Skulpturen wie Blumenbouquets oder riesige Prachtkronen. Erst bei genauerem Hinschauen erkennt man, dass hier nicht nur Blumen und Blüten, sondern das ganze Spektrum des organisch Gewachsenen zusammenkommt, und dazu gehören auch Würmer, Muscheln, Seeanemonen. »Unverblümt« heißt die Schau im Bayerischen Nationalmuseum. »Meine Arbeiten haben oft eine sehr direkte Wirkung auf die Betrachter, da braucht man keine Worte«, sagt die Künstlerin. Da ist etwa die Arbeit »Bowl«: eine helle Schale, die aussieht, als würde sie gerade aufplatzen, Luftblasen in der Glasur lassen den Ton porös erscheinen, gleichzeitig ist die Oberfläche von kleinen unregelmäßigen Formen überzogen, als würde irgendetwas darauf wachsen. »Man kann sich gut vorstellen, dass diese Schale von einem Schiff gefallen und am Meeresboden zerschellt ist – und jetzt wird sie von Muscheln und Unterwasserpflanzen überwuchert«, sagt die Keramikexpertin Katharina Hantschmann, die die Ausstellung kuratiert hat. Präsentiert wird die Schale auf einem Tisch mit Perlmutteinlagen – selbst ein Ausstellungsstück.

Alt und Neu trifft hier ganz unmittelbar aufeinander. Das ist das Konzept der Schau: Die modernen, abstrakten und sehr freien Stücke von Keiyona Stumpf stehen mitten in der Dauerausstellung des Bayerischen Nationalmuseums mit seinen barocken Kostbarkeiten aus Silber, Gold und Elfenbein. Das führt zu spannenden Bezügen zwischen den Stilepochen. Denn so unterschiedlich Alt und Neu auch sein mögen, es gibt auch deutliche Bezüge: die überbordende Opulenz, die Bewegtheit oder das Spiel mit dem Licht: Das ist purer Barock! »Die Eindrücke aus den vielen bayerischen Barock- und Rokokokirchen, die ich in meiner Kindheit besucht habe, fließen da natürlich ganz zwangsläufig und unbewusst mit ein«, so die Künstlerin. Eine tiefrote Arbeit aus Kunststoff steht direkt neben einer Bronzeskulptur des gehäuteten Bartholomäus. Fast möchte man meinen, Stumpfs blut- und fleischfarbige Version ist der bessere Märtyrer, aber sie bildet ja gar nichts ab, alles ist Andeutung, Struktur und Prinzip – und damit eben keine abgezogene Haut einer historischen Person.

In der Natur habe sie mehr Zeit verbracht als beim Studium anderer Künstler, sagt Keiyona Stumpf über ihre Inspirationsquellen. Doch sie kennt sich natürlich auch in der Kunst aus, hat an der Münchner Kunstakademie Bildhauerei studiert, u. a. bei Norbert Prangenberg. Zehn Jahre ist das her, aber es hat sich viel geändert seither: Damals war Keramik als künstlerisches Material teilweise noch verpönt. Inzwischen wird der Kunstwert einer Arbeit nicht mehr am Material festgemacht, gerade im Fall von Keramik könnte man stattdessen fast von einem Hype sprechen. Die Ausstellung ist Teil des Flower Power Festivals, das noch bis zum Herbst in München seine Blüten treibt. Im bunten Füllhorn des Festivals nimmt diese Schau eine wichtige Rolle ein. Denn eins ist mal klar: Der Kosmos hat mehr zu bieten als bunte Blüten. ||

UNVERBLÜMT – KEIYONA STUMPF
Bayerisches Nationalmuseum | Prinzregentenstr. 3 | bis 15. Oktober | tägl. (außer Mo) 10–17 Uhr, Do bis 20 Uhr | Kuratorenführung: 9.7., 11 Uhr; 10.8. und 28.9, 18 Uhr | das Begleitheft kostet 7 Euro

Weitere Besprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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