Adrian Daub und Konrad Paul Liessmann sprechen am 14. Juni im Literaturhaus über das polarisierennde Thema Cancel Culture. Zur Vorbereitung: das Buch »Canceln. Ein notwendiger Streit«, erschienen im Hanser Verlag.

Cancel Culture

Wohin steuert die Cancel-Debatte?

cancel culture

Kaum ein Thema treibt das Feuilleton derzeit zuverlässiger um als jenes der Cancel Culture und seiner artverwandten, meist irgendwie mitgemeinten Phänomene wie Wokeness und Political Correctness. Vertraut man den Kommentatoren großer deutschsprachiger Tageszeitungen wie der »NZZ«, »FAZ« oder der »Welt«, stehen wir – so wird im Wochentakt publizistisch betont – damit gesellschaftlich vor einem Riesenproblem. Die Meinungsfreiheit ist in Gefahr. Zensur droht diesmal nicht von staatlichen Stellen, die der Kunst und Redefreiheit am liebsten den Garaus machen würden, sondern von einer Gemeinde hochsensibel Gesinnter, meist akademischer Elfenbeinturmbewohner, die mit ihrer Hypermoral und ihrem kulturkämpferischen Eifer der freiheitlichen Gesinnung zu Leibe rücken – indem sie munter draufloscanceln. Zumeist in den suspekten sozialen Netzwerken. Immer häufiger aber auch in der »echten Welt«, wie sie der gesunde Alltagsverstand zu nennen pflegt.

»Seit geraumer Zeit wird aufgeräumt und saubergemacht«, bemerkt in diesem Zusammenhang auch der Wiener Philosophieprofessor, Essayist und Kulturpublizist Konrad Paul Liessmann in seinem schwungvollen Beitrag zum Debattenband »Canceln – Ein notwendiger Streit«, der soeben bei Hanser erschienen ist, und nun Grundlage für einen Gesprächsabend im Münchner Literaturhaus sein wird. Für Liessmann stellt sich die derzeitige Phänomenlage recht eindeutig dar. »Rundum wird eifrig gecancelt«, schreibt er. Besonderen Anstoß nimmt der österreichische Intellektuelle, von dem zuletzt die Bücher »Lauter Lügen« sowie »Alle Lust will Ewigkeit: Mitternächtliche Versuchungen« erschienen sind, am Beispiel der sogenannten Sensitivity Reader, die seit jüngster Zeit ihr Unwesen auch in den Lektoratsabteilungen einflussreicher deutscher Verlagshäuser trieben. Die Stimmen unterrepräsentierter ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten und Gruppen wollen nicht nur gehört werden, sie wollen andere zum Verstummen bringen, so die These des streitbaren Philosophen, der es denkerisch bisweilen gerne mit Nietzsche hält und mit dem Hammer philosophiert. Der Band, in dem auch Liessmanns Aufsatz »Der befleckte Geist. Cancel Culture und die Moralisierung des Gedankens« erscheint, vereint Essays, die die Breite des Diskurses abbilden, auch jene weniger Aufsehen erregenden Argumentationen, die es in der deutschen Publizistik seltener auf die Aufmacherseiten schaffen, wenn es ums Thema der Debattenkultur geht. So auch der Beitrag »Your Fave is Problematic: Der Fall J.K. Rowling« des Germanisten, Literaturwissenschaftlers und Hochschulprofessors an der US-Uni Stanford, Adrian Daub.

Beim Literaturhaus-Abend der Reihe »Unsere Zeit verstehen« wird Daub mit Konrad Paul Liessmann über das Aufregerthema debattieren. Daub machte bereits in seinem 2022 bei Suhrkamp erschienenem Buch »Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst« klar, dass er die Sache etwas anders sieht als der sich im Feuilleton artikulierende Tenor. Für ihn besteht das Problem weniger in einem hypermoralischen Eifer linker Zensurwilliger, sondern vielmehr in einer allzu hysterischen Reaktion des liberal-konservativen Mainstreams auf eigentlich naheliegende gesellschaftlichkulturelle Neuaushandlungen. Im Hype ums Canceln und im Sprachspiel um »Tugendterror« und die viel bemühte »Diskurspolizei« sieht Daub die Wiederkehr eines im Prinzip mehr als 30 Jahre alten Topos. Ergriff die Gesellschaft vor Jahrzehnten noch die Panik vor überschießender Political Correctness, ist es heute die Manie ums Canceln. Daub holt in seiner Gesellschafts- und Diskursanalyse auch aus, um zu zeigen, inwiefern ein Debattenexport aus den USA zu einer genuinen Verstellung im deutsch-sprachigen Raum führen konnte. Hinüber schwappte samt der moralischen Panik um die sich selbstbewusst artikulierenden Anliegen verschiedener Minderheiten eine spezielle literarische Gattung, die sich in der hiesigen Publizistik zu einem sehr eigenwilligen Genre verdichtete, die Cancel-Culture-Anekdote. Im Gestus des Solche-Verhältnisse-drohen-auch-uns zitieren deutschsprachige Kommentatoren und Kolumnen-Schreibende hier gerne Begebenheiten aus dem US-amerikanischen Campus-Alltag an den Universitäten. Inwiefern es das Feuilleton und die Meinungsseiten dabei mit der Wahrheit und Wirklichkeit nicht immer ganz genau nehmen, zeigt Daub in seinem lesenswerten, bisweilen aber auch zur Apodiktik neigenden Buch. Beide Autoren beschäftigen sich in ihren Arbeiten mit den Machtfragen moderner Gesellschaften und damit, wie die Öffentlichkeit deren Aushandlungsprozess wahrnimmt. Ihre Diskussion auf dem Podium im Literaturhaus verspricht einen intensiven argumentativen Schlagabtausch. ||

»CANCELN. EIN NOTWENDIGER STREIT«
Podiumsdiskussion mit Adrian Daub und Konrad Paul Liessmann | Moderation Mirjam Zadoff
Literaturhaus, Saal, Salvatorplatz 1
14. Juni |19 Uhr

ANNIKA DOMAINKO, TOBIAS HEYL, FLORIAN KESSLER, JO LENDLE, GEORG M. OSWALD (HG.): CANCELN – EIN NOTWENDIGER STREIT
Beiträge von Asal Dardan, Anna-Lena Scholz, Daniela Strigl, Adrian Daub, Hanna Engelmeier, Jürgen Kaube, Konrad Paul Liessmann, Ijoma Mangold, Lothar Müller, Mithu Sanyal, Marie Schmidt | Hanser, 2022 | 224 Seiten | 22 Euro

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