Das Festival DANCE 2023 zeigt unter anderem, wie Lockdown-, Kriegs- und Flucht-Erfahrungen sowie Choreografien in den Körpern weiterleben.

DANCE Festival 2023

Gegenwart der Erinnerung

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»Every Minute Motherland« von Maciej Kuźmiński | © Maciej Rukasz

Was für ein riesiger bunter Strauß dieses letzte von Nina Hümpel kuratierte DANCE-Festival doch ist. Drei Slogans – »DANCE roots«, »DANCE now« und »DANCE forward« – verklammern in die Geschichte des zeitgenössischen Tanzes zurück- und vorausschauend sechs Schwerpunkte und mehr als 20 Produktionen. Möglich wird’s, weil das Kulturreferat in den Vorjahren coronabedingt nicht ausgegebene Haushaltsmittel mit in den Festivaletat gepackt hat.

Nun ist der Blick auf die Wurzeln des modernen Tanzes mit der dritten erweiterten
Auflage der »DANCE History Tour« allein schon fast ein Festival für sich (siehe unten). Drei regionale Schwerpunkte nehmen den künstlerischen Hotspot Montréal und die politischen Brennpunkte Taiwan und Osteuropa ins Visier, außerdem steht unter »Tanz & Digitalität« Futuristisches und unter »Künstlerreferenzen« die jüngere Tanzgeschichte auf dem Programm. Wenn man aus all den großen Namen und zahlreichen Newcomern etwas herausgreifen soll, dann ist es »An Evening with Raimund« im Gedenken an Raimund Hoghe, der im Mai 2021 starb, kurz bevor er bei DANCE zum Gespräch erwartet wurde. Nun setzten sich langjährige künstlerische Weggefährten des Düsseldorfer Choreografen wie Luca Giacomo Schulte, Emmanuel Eggermont, Ornella Balestra und Takashi Ueno neu mit Hoghes formalem Minimalismus, seiner Menschenfreundlichkeit, seinen Lieblingsmusiken und seinem politischen Engagement in Beziehung. Man wird diesem ikonischen Schreiten und den tanzenden Händen wiederbegegnen, aber der Abend wird sicher nicht dabei stehen bleiben.

Nicht umsonst beginnt er mit dem Trauermarsch aus Hoghes Stück »Si je meurs, laissez le balcon ouvert«. »Die Choreografien leben in den Körpern der Tänzer*innen weiter« schreibt Katja Schneider im DANCE-Magazin über den Hoghe-Abend. So ist es auch mit den Erinnerungen an die größten Herausforderungen der Gegenwart: der Coronazeit und dem Krieg in der Ukraine. Mit ersterer hat sich Mathilde Monnier in »Records« auseinandergesetzt. Sechs Tänzerinnen konfrontieren sich vor einer weißen halbhohen Wand erneut mit dem Gefühl des Wartens, des Eingesperrtseins und der Leere (nicht nur) während des Lockdowns. Resignativ, kämpferisch, rhythmisch, schließlich entfesselt. Auf der Suche nach erinnerten Bewegungen versuchte Monnier, wie sie der »Wiener Zeitung« berichtete, »alles, was ich als Kommentar, Ornament bezeichne, also das Überflüssige, loszuwerden«. Was übrig blieb, hieß es bei der DANCE-Pressekonferenz, sei Komik und Wahnsinn. Der »Standard« bezeichnet den Abend als »Meisterinnenwerk«.

Der umfangreichste Festivalschwerpunkt Osteuropa hält besonders viele Möglichkeiten für Entdeckungen bereit. Vor allem im bei DANCE immer mitbespielten öffentlichen Raum tummeln sich viele kleinere Produktionen. Das im vergangenen Sommer entstandene dokumentarische Tanzstück »Every Minute Motherland«, das der polnische Choreograf Maciej Kuźmiński mit seinen eigenen und vier geflüchteten ukrainischen Tänzer*innen kreierte, aber hat das Zeug zur Produktion der Stunde. Inspiriert von den persönlichen Geschichten der Tänzer*innen, die die Erfahrungen der Flucht und die damit verbundenen Brüche und Wunden in ihren Körpern tragen, geht es Kuźmiński weniger um ein politisches Statement als um das Tanzen als Überlebensstrategie. »Bloß keine Plattheiten, welche die Komplexitäten verkleistern«, sagt er im begleitenden Dokumentarfilm »Fragments of Resilience«, in dem auch die Tränen fallen, die man in dem ruhigen und eindringlichen Stück nicht sieht. || 
DANCE
11.–21. Mai | verschiedene Spielstätten | Programm und Tickets

Weiteres zum Tanz-Geschehen in München finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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