Manchmal reicht ein Ball, um Mauern zu überwinden: Die Ausstellung »Wegschauen verboten« in Rosenheim präsentiert die Kunst der Illustration im politischen Bilderbuch.
Wegschauen verboten! Das politsche Bilderbuch
Veränderung? Ein Kinderspiel!
Die Hitlers dieser Welt stehlen den Kindern immer aufs Neue ihre rosa Kaninchen. Das wird nie aufhören, betrachtet man die Konflikte weltweit und ihre Auswirkungen auf die Menschen. Wie Kinder betroffen sind und wie sie mit Krieg, Vertreibung, Flucht, Tod und Trennung umgehen, ist ein Thema, das längst auch in die Bilderbücher Einzug gehalten hat. Die Publizistin, Literaturkritikerin und Kunsthistorikerin Christine Knödler, bekannt als leidenschaftliche, übersprudelnde Vertreterin von allem, was das Leben für alle besser und schöner machen könnte, hat 120 originale Illustrationen ausgewählt, mit denen sie 29 Künstlerinnen und Künstler aus vielen Ländern präsentiert, die sich in ihren Bilderbüchern für kleine und größere Menschen politischen Fragestellungen widmen. Zu sehen sind aber nicht nur Bilder, die Angst und Schrecken greifbar machen, sondern auch Welten, die Hoffnungen und Alternativen, Auswege und Optimismus vermitteln. In jedem der acht Ausstellungsräume gibt ein Text an der Wand eine Handreichung, unter welchen Aspekten die Bilder zu betrachten sein können. Im ersten Raum heißt es: »Im Bilderbuch reicht manchmal ein Ball, um Machthaber auszuhebeln und Mauern zu überwinden. Veränderung ist dann ein Spiel. Ein Kinderspiel.« Wie viel schöpferische Kraft im Kinderspiel steckt, konnte man zuletzt im belgischen Pavillon auf der Kunstbiennale in Venedig 2022 erleben: Francis Alÿs’ Filme von spielenden Kindern in Krisengebieten auf der ganzen Welt hat vielen Besuchern ein verklärtes Lächeln ins Gesicht gezaubert.
Aber ob der Ausstellungstitel, als Verbot formuliert, die Bereitschaft zum Hinschauen wirklich motiviert? Wie spielerisch man die Bilderbuchillustrationen erlebt, hängt stark auch vom Kombinationsvermögen der Besucher ab: Das »Leitsystem« in den acht liebevoll gestalteten Räumen kommt ein wenig zu kurz. In der Schau hängen einzelne Blätter aus Bilderbüchern an den Wänden, deren ganze Geschichten sich nicht immer aus den Fragmenten erschließen. Hilfreich wäre eine dezente Nummerierung, damit man die Bilder zumindest in der Reihenfolge betrachten könnte, die im Idealfall der Bilderbuchgeschichte näher kommt. Zum Glück gibt es aber auch sehr heitere Momente, wie Franziska Gehms und Horst Kleins »Hübendrüben: Als deine Eltern noch klein und Deutschland noch zwei waren« über das Heranwachsen in einem geteilten Land und die unfreiwillige Komik, die damit einherging. Sehr lustig sind auch die Bildtafeln von Jens Rassmus aus dem fabelhaft anarchischen Buch »Juhu, LetzteR! Die neue Olympiade der Tiere«, das mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2021/22 ausgezeichnet wurde. Kalkuliert ins Stocken kommt man in dem Raum, der Flucht und Zuflucht gewidmet ist: Hier sind dekorativ aufgeklappte, leere Koffer an der Wand platziert, mit unausweichlicher Auschwitz-Assoziation.
Dass Bilderbücher künstlerisch auch für große Betrachter eine Herausforderung sind, beweisen u. a. Heinz Janisch und Aljoscha Blau mit ihrer feinst ziselierten »Schlacht von Karlawatsch«, wo eine rote und eine blaue Gruppe sich bekämpfen, oder Armin Greders lange vergriffenes Buch »Die Insel«, deren Burg als Thema gleich auch die Wand ziert. Gro Dahles und Svein Nyhus’ »Bösemann« sollte man Kinder nicht allein anschauen lassen, ist es doch schon harter Stoff für erwachsene Betrachter.
Lange versenken kann man sich dafür in Issa Watanabes Bilder aus »Flucht«: Vor tiefschwarzem Hintergrund macht sich eine bunte, sehr ernste Tiergruppe auf den Weg durch den Wald, durch die Nacht, bis sie irgendwo ankommt, wo die Schwärze anderen Farben weicht. Der Detailreichtum macht das Betrachten zur Schatzsuche, die ganz ohne Text funktioniert und über die man mit seinen Kindern lange sprechen könnte. Mit von der Partie sind auch Anke Kuhl, Jörg Mühle und Philip Waechter aus der Frankfurter Ateliergemeinschaft Labor, die mit einigen Beispielen, u.a. aus Jörg Mühles »Zwei für mich, einer für dich« über die Kunst der Gerechtigkeit vertreten sind. Auf den Büchertischen, die in jedem Ausstellungsraum zum Schmökern einladen, findet man auch ein Labor-Highlight, das nicht an der Wand hängt, aber unbedingt in jeden Haushalt gehört, der zunehmend frustriert in die Zukunft schaut: »Das wird bestimmt ganz toll« erschien 2021 mitten in der Pandemie und ist ein Fest der unverbesserlichen Hoffnung. Darin malen sich Kinder die Welt aus, wie sie sein wird, wenn sie einmal groß sind, und entwerfen völlig verrückte, richtig tolle Ideen, mit denen wirklich alles besser werden könnte. Allein wegen dieser Entdeckung sollte man mindestens eine halbe Stunde mehr einplanen. ||
WEGSCHAUEN VERBOTEN! DAS POLITISCHE BILDERBUCH
Städtische Galerie Rosenheim | Max-BramPlatz 2, 83022 Rosenheim | bis 16. April | Di bis So, 13 bis 17 Uhr | Informationen zu Führungen
LABOR ATELIERGEMEINSCHAFT: DAS WIRD BESTIMMT GANZ TOLL!
Beltz & Gelberg, 2021 | 160 Seiten | 16 Euro
Weitere Ausstellungsbesprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Das könnte Sie auch interessieren:
Binette Schroeder: Die »Lupinchen«-Erfinderin im Interview
SAID: Sein Buch »flüstern gegen die wölfe«
Schloss Blutenburg: Historische Jugendbücher & Maria Friedrich
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton