Das Literaturhaus zeigt Simone de Beauvoir in der aktuellen Ausstellung als Schlüsselfigur im Ringen um Unabhängigkeit und Gleichberechtigung der Frau bis heute.

Simone de Beauvoir im Literaturhaus

Das zweite Geschlecht

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Simone de Beauvoir, Passfoto 1945–46

Wie immer, wenn ich mich wieder einmal mit Simone de Beauvoirs feministischem Monumentalwerk »Le deuxième sexe« beschäftige, drängt sich mir die Frage auf, warum die deutsche Übersetzung des Titels »Das andere Geschlecht« und nicht »Das zweite Geschlecht« lautet. Nicht die Andersartigkeit, sondern die Zweitrangigkeit der Frau ist schließlich Thema des Buches, dem das Literaturhaus München eine Ausstellung widmet. Simone de Beauvoir hat vor mehr als 70 Jahren ein »Manifest der Gleichberechtigung« und einen »Meilenstein in der Geschichte unserer modernen Gesellschaft« geschaffen – so heißt es in der Ankündigung. Mit der Bedeutung des Werkes für die Gegenwart setzen sich die Literaturkritikerin Iris Radisch und die Autorinnen und Wissenschaftlerinnen Julia Korbik, Stefanie Lohaus, Imke Schmincke, Lea-Riccarda Prix und Anna-Lisa Dieter auseinander.

Iris Radisch vergleicht die Wirkung, die »Das andere Geschlecht« auf sie gehabt hat, mit der Lektüre von Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Danach habe sie die Welt mit anderen Augen gesehen. Eine reizvolle Frage, die ich mir auch gern stelle: Welches Buch hat mein Leben so verändert, wie es »Das andere Geschlecht« getan hat? Spontan fällt mir Claude Lévi-Strauss’ »Das wilde Denken« ein, das ich etwa zur selben Zeit las. Beide Werke stellen die damals allgemeingültigen Bezugssysteme in Frage.

»Das andere Geschlecht« war nicht das erste Buch von Simone de Beauvoir, mit dem ich mich beschäftigte: Im Französischunterricht lasen und besprachen wir »Mémoires d’une jeune fille rangée«. Später, während meines Studiums, entdeckte ich die Romanautorin Simone de Beauvoir: »In den besten Jahren«, »Der Lauf der Dinge«, »Alles in Allem«. Wie sie Geschichte, Philosophie und Autobiografie zusammenschmiedete, war für mich wegweisend.

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Simone de Beauvoir am Schreibtisch, 1945 © Collection Sylvie le Bon de Beauvoir/Diffusion Gallimard

Eine Vitrine in der Ausstellung ist der Ausgabe des Buches »Eine gebrochene Frau« gewidmet, zu der ihre jüngere Schwester, die Malerin Hélène de Beauvoir, auf Simones Wunsch Illustrationen schuf. Doch das ist das einzige Mal, an dem die kleine Schwester erwähnt wird, die von sich sagte, sie sei schon lange vor Simone Feministin gewesen. In Alice Schwarzers Filmporträt aus dem Jahr 1973, das in der Ausstellung gezeigt wird, spricht Simone de Beauvoir zwar ausführlich über ihre Kindheit, aber nicht über ihre »Komplizin« und »Untertanin«, die zeitlebens in ihrem Schatten stand. Innerhalb der Schwesternbeziehung war Simone die Erste, die Maßstäbe setzte, und Hélène die Zweite, die daran gemessen wurde. Doch dieses Narrativ setzte de Beauvoir sparsam ein, es war nicht immer gewünscht.

Im Ausstellungsteil »Natur und Mythos« erklärt Iris Radisch: »Für Simone de Beauvoir waren das biologische Geschlecht und seine Bedeutung für die Fortpflanzung ein Fakt, der sich ›nicht leugnen› lässt.« Doch genauso wichtig sei ihr, dass aus dem biologischen Geschlecht »absolut nichts« folge. Darin bestätigt wird sie von Siri Hustvedt, die in ihrem Essay »Being a man« berichtet: »Im wachen Zustand bin ich eine Frau, aber in meinen Träumen bin ich manchmal ein Mann. Meine Männlichkeit ist selten eine Frage der Anatomie.« Für Simone de Beauvoir, so Iris Radisch, sei »das soziale Geschlecht vollkommen unabhängig vom biologischen Geschlecht«, was bedeute: »Die Freiheit der Frau, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, wird von der Biologie nicht beschnitten.« Daher dürfe ihre Freiheit, »sich selbst als Frau zu entwerfen« auch nicht durch die Gesellschaft beschränkt werden, ganz im Sinne des berühmtesten und provokativsten Satzes aus ihrem Buch: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.«

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Ein kleines Highlight der Ausstellung – Alberto Giacometti: »Simone de Beauvoir« | Bronze, um 1946 Leihgeber: Sammlung Klewan | Foto © Catherina Hess

Mit dieser Erkenntnis ist ein Auftrag zur Selbsterfindung verbunden, deren Stationen in der Ausstellung durch ausdrucksstarke Porträts von Simone de Beauvoir dokumentiert werden. Während ich an ihnen vorbeiflaniere, wünsche ich mir ein wenig mehr Paris. Da ist der Stadtplan mit all den Orten, an denen Simone de Beauvoirs Selbsterfindungsprozesse stattfanden, aber wie lässt sich im heutigen München die Atmosphäre der legendären Cafés von Saint-Germain-desPrés, Café de Flore, Les Deux Magots, die solche Selbstschöpfungsprozesse begünstigten, nachfühlen? Doch dann lasse ich mich von Simone de Beauvoirs Blicken verführen: Ich werde wieder in ihrem großartigen Werk lesen und die Ausstellung bestimmt noch einige Male besuchen. ||

SIMONE DE BEAUVOIR & DAS ANDERE GESCHLECHT
Literaturhaus | Salvatorplatz 1 | bis 11. Juni | tgl. 11–18 Uhr
Kuratiert von Eva Kraus, Katharina Chrubasik, Tanja Graf und Anna Seethaler | Eintritt: 7 Euro/3 Euro (montags für Studierende und Schüler 3 Euro)

Weitere Ausstellungsbesprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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