Wie gefährlich es bis vor nicht sehr langer Zeit war, sich öffentlich als queer zu bekennen, erfährt man derzeit im NS Dokumentationszentrum in der Ausstellung »To Be Seen. Queer Lives 1900 – 1950«.

To Be Seen. Queer Lives 1900 – 1950

Selbstbewusst, mutig, gefährdet

queer lives

Polizeifoto von Liddy Bacroff, aufgenommen nach einer Festnahme 1933 | © Staatsarchiv Hamburg

Für Menschen, die um die Jahrtausendwende geboren sind, ist die aktuelle Sonderausstellung des NS-Dokumentationszentrums ein Ausflug in jene scheinbar ferne Zeit, als es das Wort »Queerness« noch nicht gab. Für die Älteren ist sie vielleicht ein bitteres Déjà-vu. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kämpften Menschen, die sich dem »Dritten Geschlecht« – wie es der Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868 –1935) erstmals bezeichnete – nahe oder zugehörig fühlten, in Deutschland um Anerkennung, die Überwindung öffentlicher Ablehnung, das Ende strafrechtlicher Ahndung ihrer sexuellen Neigungen oder während des »Dritten Reiches« mit existenzieller Drastik um das blanke Überleben. Allein schon am Ausstellungstitel »To Be Seen. Queer Lives 1900–1950« wird offenbar, wie sich der Umgang mit Queerness
mit dem jeweiligen politischen Klima wandelte, immer zwischen dem Sichzeigen und dem Hinschauen oder dem Sichverstecken und dem Wegschauen. Als Mitte 1985 das Münchner Stadtmuseum ein »schwules Wochenende« veranstaltete, ging es bereits um Sichtbarmachung von alternativen Lebensformen, ein Plädoyer für Toleranz auf breiter Basis, den Abbau von Vorurteilen und einen Zuwachs an Aufklärung. Durch Aids drohte dem jungen »queer pride« parallel eine neue Woge von Diskriminierung schwuler Minderheiten. In den folgenden Jahrzehnten erstarkten in Kultur und Politik viele Positionen zu einer selbstbestimmten »queeren« Art des Seins, die in den Rechtsschutz mit mehr oder weniger Gewicht Eingang fanden. Vor allem Schwule und später Metrosexuelle wurden von der kapitalistischen Wirtschaft bald als erfolgssichere Zielgruppe umschmeichelt.

Homophobie in der »liberalen« Gesellschaft

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Claude Cahun mit Reichsadler zwischen den Zähnen, 1945 | © Jersey Heritage Collection

»Leider sind Vorurteile und Ressentiments auch in Deutschland kein Phänomen, das sich nur ganz rechts außen zeigt; es durchzieht die gesamte Gesellschaft, mal deutlicher, mal subtiler. Und viele Menschen trauen sich immer noch nicht, sie selbst zu sein und sich zu outen. Auch deshalb ist diese Ausstellung so wichtig«, schrieb Kulturstaatsministerin Claudia Roth als Schirmfrau in ihrem Grußwort. Da hat sie recht: Spuren von Homophobie sind sogar noch im deutschen Edelfeuilleton nachweisbar, zum Beispiel als im September 2016 Eleonore Büning in der »FAZ« in ihrem Text »Die Verschwörung der Opernschwulen« ein von ihr vermutetes Netzwerk erotisch Gleichgesinnter attackierte. Auch der Konfliktkosmos der Romanautorin Fatima Daas, die als Lesbierin und religiöse Muslimin 2021 ihre selbstbewusste Lebensform in einem komplexen Reflexionsniveau als »Sünde« bezeichnete, ist in der säkularen Gegenwart eine nicht minder heftige Zerreißprobe. Insofern bleibt das Thema der Ausstellung, selbst wenn der frühere Paragraf 175 StGB über die Strafbarkeit sexueller Handlungen unter Männern am 11. Juni 1994 aufgehoben wurde, auch in der Zukunft von hoher Relevanz.

Zwischen Selbstermächtigung und Stigmatisierung

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Lena Rosa Händle: »Diese Hände – eine Welt ohnegleichen«, Fotografie, 2022 | © Courtesy the Artist

Der Rundgang durch die beiden Haupträume und zu den künstlerischen Interventionen in der Dauerausstellung offenbart, wie vielschichtig die Diskurse über die Splitterthemen der Queerness sind. Das sechsköpfige Kuratorium hat sich auf den Themenzeitraum von 1900 bis 1950 konzentriert, also von der Jahrhundertwende über die Weimarer Republik und die Weltkriege bis zum Wirtschaftswunder. Die Ausstellung wartet mit imponierender Materialfülle auf. Umfangreiche Texttafeln finden sich neben künstlerischen und dokumentarischen Originalen. So entsteht ein engmaschiger Kosmos aus alternativen, politisch engagierten und vor der Öffentlichkeit getarnten Lebensformen. Ziele der Ausstellung sind Inklusion, Transparenz, Sichtbarmachung der breiten Thematik in Räumen, die durch durchsichtige und in Regenbogenfarben schimmernde Plastikvorhänge gegliedert sind. Der Orientierung dient eine Auflistung wichtiger Daten für die öffentliche Anerkennung queerer Lebensformen, die auf Transparenten dargestellt sind. Diese und der umfangreiche Begleitband sind in Bereiche wie »Selbstermächtigung«, »Exil und Widerstand« und »Die Bühne als Ort der Utopien« gegliedert.

Mit dem Anspruch auf signifikante Beispielhaftigkeit und lexikalische Objektivität werden exemplarisch Personen vorgestellt, die zum Teil erst nach ihrem Tod bedeutsam wurden. Neben Magnus Hirschfeld, dem Gründer der humanitären Komitees und queeren Vordenker, würdigt man beispielsweise den Münchner August Fleischmann (1859–1931), der nach einer Gefängnisstrafe wegen Verstoßes gegen Paragraf 175 eine Reihe von populären Aufklärungsbroschüren über männliche Homosexualität veröffentlichte. Vorgestellt wird auch Charlotte Wolff (1897–1986), die gegen das Primat der von Männern dominierten Sexualwissenschaft über weibliche Homosexualität und Bisexualität forschte. Der Abschnitt »Verfolgung und Haft« widmet sich Personen, die sich vor 1933 zu ihrer sexuellen Orientierung bekannten, jedoch im Nationalsozialismus ihren öffentlichen Lebensstil an das einzige zulässige, also heteronormative Direktiv anpassten. Neben einem prominenten und im Nationalsozialismus hochgeschätzten Theatermann wie Gustav Gründgens zum Beispiel Friederike Wieking (1891–1958): Die preußische Kriminalpolizeirätin verschaffte ihrer als »Sekretärin« getarnten Lebensgefährtin Hildburg Zeitschel eine Anstellung in ihrem eigenen beruflichen Umfeld. Nach Wiekings Internierungshaft von 1945 bis 1950 setzten beide Frauen ihre Paarbeziehung fort.

Schön schräg

Neben den dokumentarischen Exponaten finden sich auch künstlerische Interventionen zum Thema. Bei vielen dieser Arbeiten fällt auf, wie sachlich mit dem Thema umgegangen wird. Philipp Gufler dagegen arbeitet mit weichem textilen Material, mit dem er die chronologische Strenge der Ausstellung und die auratische Statuenhaftigkeit queerer historischer Personen durch seine Form der Erinnerungskultur aufbricht. In einem Aufsatz von Ben Miller gerät die Begrifflichkeit »queer« selbst in den Definitionsfokus: Als Sammelwort für alle physischen und mentalen Befindlichkeiten in Unterscheidung bzw. Ergänzung zur binären Heteronormativität, aber auch als die von Guy Hocquenghem und Michel Foucault begonnene Deutung von Homosexualität als »schräge« Einstellung zum Leben und zur Welt. Schließlich weist die Ausstellung mit einem Zitat des Queer-Theoretikers und Theaterwissenschaftlers Jose Esteban Munoz in die Utopie: »Queerness existiert für uns als Ideal, das wir aus der Vergangenheit gewinnen und nutzen, um daraus eine Zukunft zu erträumen.« ||

TO BE SEEN. QUEER LIVES 1900–1950
NS-Dokumentationszentrum | Max-Mannheimer-Platz 1 | bis 21. Mai | Di bis So 10–19 Uhr, Eintritt frei | Begleitband: Hirmer-Verlag, 2023 | 252 Seiten | 34,90 Euro

GESPRÄCHE IM RAHMEN DER AUSSTELLUNG
8. Februar: »Wie Religion und queere Identität zusammenpassen« mit Leyla Jagiella, Monty Ott, Mohamed Amjahid u.a. || 20. Februar: »Intimität und Wissenschaft – Queer in den Lagern« mit Anna Hajkova, Katharina Aigner, Paula-Irene Villa Braslavsky und Niko Wahl jeweils 19 Uhr

Weitere Ausstellungsbesprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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