»Dancing for Stalin«: Die legendäre Charaktertänzerin Nina Anisimova und die Sowjet-Macht – dargestellt von der in München geborenen Autorin Christina Ezrahi.
Dancing for Stalin
Von der Bühne ins Straflager
Glück ist die Einheit von Wollen, Können und Vollbringen. Christina Ezrahi vereint in ihrem Buch »Dancing for Stalin« alle drei: Sie hat für sich einen Stoff gefunden, der kulturgeschichtlich bedeutsam ist. Sie hat russische Geschichte und Politik studiert, in St. Petersburg Russisch gelernt und in Moskau für die UNO gearbeitet, sodass sie viele Quellen erschließen und auswerten kann. Und sie hat ihren riesigen Stoff literarisch gestaltet. Zudem ist sie eine klassisch trainierte Tänzerin. Doch nicht nur sie, auch ihre Protagonistin ist ein Glücksfall. Während beim Lesen die Bewunderung für Nina Anisimova wächst, fragt man sich bang: »Hat sie am Ende wirklich für Stalin getanzt?«
Mit ihrer Leitfrage, wie die Kulturschaffenden trotz ständiger Zensur ihre künstlerische Autonomie wahrten, drang Ezrahi schon 2012 mit »Swans of the Kremlin« zum Wesen russischen Balletts und sowjetischer Politik vor. Ihr neues Buch konzentriert sich auf die als »Großer Terror« bekannte Zeit von Juli 1937 bis November 1938. Sie gab ihm den Untertitel »A Dancer’s Story of Courage and Survival in Soviet Russia« und wechselt darin souverän die Ebenen zwischen Einzelschicksalen und Politik. Mit einem Auftritt von Nina Anisimova als Revolutionsheldin in »The Flames of Paris« vergegenwärtigt sie das brennende Temperament und die ungeheure Bühnenwirksamkeit dieser Tänzerin. Es folgt, wie man aus dem hellen Zauber des Theaters in die angsterfüllte Nacht trat, in der die Geheimpolizei bis zum Morgen frisch Verhaftete in Leningrads Gefängnisse brachte. Stalins Politbüro hatte die Elimination von 268.950 Staatsfeinden befohlen. Chefs regionaler Geheimdienste sahen Karrierechancen darin, höhere Quoten zu erfüllen. Dafür machte man mit einem Federstrich eine 29-jährige Tänzerin zum Volksfeind.
Auf Ninas Festnahme in der Nacht zum 3. Februar 1938 und die Schrecken ihrer Haft folgt im Buch der liebevolle Blick auf ihre Entwicklung seit 1919. Als sie für klassischen Tanz zu groß wurde, wandte sie sich auf Anraten namhafter Pädagogen dem Charaktertanz zu, den sie 1932 in »Flames of Paris« vom folkloristischen Beiwerk zum Träger dramatischen Ausdrucks erhob. 1936 trat sie mit »Andalusian Wedding« auch als Choreografin hervor. Anders als der vor-revolutionäre Spitzentanz stand volksnahe Folklore jetzt hoch im Kurs. Als Wassily Wainonen mit »Partisan Days« (UA am 10. Mai 1937) das erste Ballett aus reinem Charaktertanz schuf, war Nina darin die zentrale Heldin – zur Empörung klassischer Ballerinen. Doch jene Nacht setzte ihrem Aufstieg ein Ende.
In den folgenden neun der elf Kapitel dokumentiert Ezrahi, wie Stalins Politik mehrere Millionen an Opfern forderte. Hochgesinnte Talente lebten ständig in Angst, während die Handlanger des Systems immer niederträchtiger wurden. Schon Hitlers Machtübernahme hatte den Argwohn gegen potenzielle Spione gesteigert, und 1934 ließ Stalin nach der Ermordung von Leningrads Parteichef Sergei Kirov 11.000 Oppositionelle liquidieren. In dieser vergifteten Atmosphäre wuchs auch der Verdacht gegen Evgeny Salomé, einen Rechtsberater am Deutschen Konsulat, der Ballett liebte und gern Partys gab, auf denen Nina manchmal zu Gast war. Für den Geheimdienst galt ihre Verbindung zu Nazi-Deutschland damit als erwiesen, zumal ein Kollege sie diffamierte. Nina durchschaute, wie Stalins Schergen ihn als Zeugen willfährig gemacht hatten, hielt stand und plädierte sogar für dessen Unschuld. Mit Ninas Transport in den Gulag beschreibt Ezrahi auch die Lage und Funktion solcher Lager. Karlag in der kasachischen Region Karaganda gehörte mit einer Fläche wie Belgien und über 40.000 Gefangenen zu den größten. Als Nina im Oktober 1938 dort eintraf, war sie von einer die Bühne dominierenden Tänzerin zur anonymen Nummer geworden, die sich am Horizont ihrer Familie verblassen sah.
So drastisch Ezrahi die Leiden Ninas ausmalt, so einfühlsam stellt sie Konstantin Derzhavin vor, der ihr Halt gab. Von Hause aus ein Homme de lettres, hatte »Kostia« sich früh dem revolutionären Theater verschrieben. Als Assistent von W. E. Meyerhold, der von Schauspielern auch körperliches Training verlangte, entwickelte er eine Affinität zum Ballett. Schon 1921 schrieb er, er wolle künftig Ballette inszenieren, wo eine »ideologische Kultur« noch fehle. Seit langem waren seine und Ninas künstlerische Interessen parallel verlaufen, aber sie trafen sich erst bei der Premiere von Ninas »Andalusian Wedding«. Es wurde für beide die Liebe ihres Lebens.
Nach Ninas Verhaftung schrieb Kostia an hohe Beamte, dass ihr laut Strafgesetzbuch keine Schuld nachzuweisen sei. Die Autoritäten anzuzweifeln glich einer Selbstmord-Mission. Ezrahis Analysen imponieren ebenso wie ihr Spürsinn, mit dem sie auch kleinste Zettel auswertete, auf denen Nina mit Kostia kommunizierte. Konnte sie darauf vertrauen, dass er sein Leben einer Volksfeindin widmen werde, die für fünf Jahre in einem fernen Straflager festsaß? Sie sprach ihn von dieser Erwartung frei. Aber Kostia kämpfte um Ninas Entlassung, indem er u. a. damit argumentierte, dass sie dem Aufbau des sowjetischen Ballett-Theaters dienen könne, das an Koryphäen mit schöpferischer Initiative nicht reich sei. Doch ernüchtert musste er einsehen, dass die Bolschewiken keineswegs im Sinn hatten, eine von der Avantgarde erträumte neue Kunst zu ermöglichen, sondern nur mit messianischem Eifer das agrarisch geprägte Zarenreich zur proletarischen Industriegesellschaft umbauen wollten.
Auch Nina hoffte sich wieder in die Gesellschaft integrieren zu können, indem sie ihre Nützlichkeit zeigte. Ezrahi schildert, wie sie zunächst trotz gesundheitlicher Schwäche darum rang, ihren Tanz, ihre Technik und ihr tänzerisches Bewusstsein bei fehlender Bewegungsfreiheit, Hunger, klirrender Kälte und Einsamkeit nicht zu vergessen. Lager-Künstler wurden von Wächtern oft gequält, nur weil sie gebildeter waren. Andererseits waren Ensembles erwünscht, damit sie mit ihren Vorstellungen die Lagerdisziplin stärkten. Alles war so ambivalent wie der Frühling, über den Ezrahi schreibt: »Stürme und die endlose Fläche der schneebedeckten Steppe wichen aufblühenden Farben, und aromatische Düfte sättigten die Luft. Aber nun wurden auch Leichen begraben, die sich im Winter angesammelt hatten und als Eisfiguren konserviert zur Warnung aufgestellt waren.«
Während Nina mit einer Kultur-Brigade durch Karlags Departments zog, erreichte Kostia, dass sie zur Überprüfung ihres Falles wieder nach Leningrad überstellt wurde. Ezrahi weist auf den Zusammenhang hin: Im November 1938 nahm das Politbüro eine Resolution an, die besagte, dass die überzogenen Maßnahmen der letzten zwei Jahre zu Fehlern in der Arbeit des Staatsschutzes geführt hätten. Wie ein Befehl von ganz oben den Großen Terror ausgelöst hatte, so wurde er nun beendet. Weil sein Befehl aber im Zug einer Säuberung der bisher leitenden Behörden zu vielen Erschießungen und Selbstmorden führte, telegraphierte Stalin, dass das Zentralkomitee ab 1937 die Folter erlaubt hatte. Er stand zu den Ergebnissen des Großen Terrors, deckte dessen Vollstrecker – und klar war: Die Opfer würden kein Recht bekommen!
Nina aber kam dank Kostias anhaltendem Einsatz am 11. November 1939 frei. Ezrahis lehrreiches Buch reicht über die deutsche Belagerung Leningrads und die Folgen des Zweiten Weltkriegs für die Theaterarbeit in ganz Russland bis zu den späteren Erfolgen von Nina und Kostia. Es gewinnt an Aktualität, weil sich seit geraumer Zeit ein weiterer Autokrat als Stalins scheußlicher Wiedergänger entpuppt. Wie Ezrahi resümiert, warnt Ninas Leidensgeschichte davor, was passieren kann, wenn Wahrheit und die Unverletzlichkeit menschlichen Lebens keine Werte mehr sind. Ninas Tanz diente nicht Stalin, nein, er feierte in einer Zeit, in der der Tod überall war, das Leben. Dank willensstarken Künstlern wie Nina fanden Menschen im Alptraum des Stalinismus bei der Kunst spirituellen Trost und eine humanistische Vision von Würde, Schönheit und Lebensfreude. ||
Christina Ezrahi im Gespräch mit Karl-Peter Fürst.
Russisches Ballett, russische Politik
Frau Ezrahi, wie kamen Sie als Historikerin zum Schwerpunkt Russland, und wieso berichten Sie darüber durch das Medium Ballett?
Meine erste Liebe war das Ballett und Russland dann meine zweite. Als Teenager habe ich russische Literatur gelesen, was meine große Leidenschaft für das Land entfacht hat. Als ich mich Ende der Schulzeit entschieden hatte, das Tanzen lieber anderen zu überlassen, habe ich mich auf Russland konzentriert. Nach meinem Master in Oxford – internationale Beziehungen mit Schwerpunkt auf russischer Politik – habe ich für die UNO in Moskau gearbeitet.
Wann war das?
Das war 2001/02, während des zweiten Tschetschenienkriegs. Ich war da oft im Nordkaukasus, um die Flüchtlingslager zu sehen und sie den Diplomaten zu zeigen. In Moskau habe ich in den Antiquariatsabteilungen der Buchhandlungen nach Ballettbüchern aus der Sowjetzeit gestöbert und sehr viel interessantes Material gefunden, was einen Frust aus meiner Studienzeit neu angefacht hat.
Welchen Frust?
Wenn man russische Geschichte oder Politik studiert, ist die
Kultur immer ganz wichtig. Aber geredet wird nur über Literatur, Musik und vielleicht noch die Malerei. Ballett sieht man, auch in Deutschland, als wenig intellektuell an. Die meisten westlichen Forscher denken, dass es über russisches Ballett nichts zu schreiben gäbe. Man meint, dass alles, was wirklich kreativ und individuell in der Sowjetunion war, mit Diaghilev in den Westen gekommen oder nach der Revolution zu ihm geflüchtet sei, und dass alle, die in Russland blieben, hervorragende Künstler gewesen sein mögen, aber die Choreografen
von der Zensur einfach erstickt wurden.
Hat die Lektüre russischer Ballettbücher Ihnen ein anderes Bild vermittelt?
Ja, die Geschichte ist viel komplexer. Und es gibt weit mehr zu berichten als das, was wir im Westen wissen. So konnte ich meine Liebe zum Ballett mit meinem Interesse für Politik und Geschichte verbinden. Ich dachte mir, dass Ballett die ideale Linse ist, wenn man sich russische Geschichte anschauen möchte, gerade weil es auch in der Bevölkerung so beliebt ist, aber auch immer in der Machtpolitik eine Rolle gespielt hat.
Wie sind Sie dann auf Nina Anisimova gestoßen?
Ich fand eine Denunziations-Liste mit fast 40 Tänzern und Dirigenten, die alle mit einem Angestellten des Deutschen Konsulats in Leningrad Kontakt hatten. Von den fünf Namen, die durchgestrichen waren, kannte ich nur den von Nina Anisimova. Dass sie verhaftet worden war, war damals noch nicht allgemein bekannt. Ich habe mir ihre Akte beschafft und bin beim Googeln auf ihre Gulag-Briefe gestoßen. Das war’s! Mein Traum war ja, die Probleme der sowjetischen Geschichte durch den Blick einer Tänzerpersönlichkeit zu erzählen. Nun hatte ich eine Tänzerin der Stalinzeit, verhaftet und ins Lager geschickt, zudem vor dem Hintergrund der Belagerung von Leningrad, alles in einem Schicksal!
Im März kommt »Dancing for Stalin« als Taschenbuch mit neuem Nachwort heraus. Was ist da anders?
Mein Buch endete mit einer Hymne auf Memorial. Der ursprüngliche Zweck dieser Organisation war, die Geschichte der politischen Verfolgungen während der Sowjetzeit an die breite Öffentlichkeit zu bringen. Das war zu der Zeit von Gorbatschow, Glasnost und Perestroika. Seit den frühen 90er Jahren hat Memorial aber auch über Menschenrechtsverletzungen, die jetzt passieren, berichtet. Deshalb kannte ich sie schon aus meiner Tschetschenien-Zeit, und später kam ich durch meine Arbeit zum stalinistischen Terror wieder mit ihnen in Kontakt. Sie sind nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine endgültig verboten worden.
Konnte der Friedens-Nobelpreis für Memorial dagegen nicht schützen?
Als der Nobelpreis verkündet wurde, war die erste russische Reaktion, auch die Bürogebäude in Moskau zu konfiszieren, die es noch gab. Aber Memorial sagt: »Wir sind nicht nur Gebäude, sondern ein Netzwerk.« Sie versuchen ihre Arbeit mutig fortzusetzen, viele aus dem Ausland, viele auch weiter in Russland, solange sie noch in Freiheit sind. ||
CHRISTINA EZRAHI: DANCING FOR STALIN: A DANCER’S STORY OF COURAGE AND SURVIVAL IN SOVIET RUSSIA
Elliott & Thompson Limited, 2021 | 339 S., Abb. | ca. 20 Euro || Taschenbuch (März 2023) ca. 13 Euro
Weitere Artikel zum Tanz und weitere Buchbesprechungen finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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