Eine Idee macht Schule. Das Progressive Chamber Music Festival überschreitet im Milla Club zum bereits 5. Mal die Grenzen musikalischen Schablonendenkens.
Progressive Chamber Music Festival
Der andere Ansatz
Den Stadtteil, in dem der Geiger Gregor Hübner zuhause ist, kann man als ziemlich durchmischt bezeichnen. Der 55-jährige gebürtige Schwabe wohnt in Harlem, New York. Musikalisch stoßen hier Jazz, Hip-Hop und Avantgarde aufeinander. Und es gibt eine Szene für zeitgenössische Musik. Das hat viel mit Hübner selbst zu tun. Nach einer klassischen Ausbildung in Wien war der Geiger in die USA gegangen, um an der Manhattan School of Music Jazz zu studieren. Die Musik wollte er noch einmal von einer ganz anderen Seite kennenlernen und durchdringen. Am Ende hing er in New York fest und das jetzt fast sein halbes Leben lang. Trotzdem ist Hübner seiner ursprüngliche Heimat Deutschland verbunden geblieben. Zum Wintersemester ist er gerade wieder aus New York angereist, um seiner Gastprofessur als Jazzgeiger an der Münchner
Musikhochschule nachzugehen. Ähnlich wie auf der Bühne, wenn er aus einem relaxten Rumba-Groove plötzlich in ein aberwitzig abgefahrenes und rasantes Solo hochschnellt, gestaltet er seinen Alltag. Ankunft mit dem Flugzeug am Vormittag, bis mittags vom Flughafen in die Musikhochschule, nachmittags Unterricht. Und in der Mittagspause ist Hübner dann für ein Stündchen zu sprechen über sein Progressive Chamber Music Festival, das er vor sieben Jahren in New York gegründet und vor fünf Jahren als Idee nach München exportiert hat.
»Contemporary Music«, sagt Hübner, »ist ein bisschen was Anderes, als was man hier unter zeitgenössischer Musik versteht.« Die Grenzen zwischen den Genres Rock, Jazz, Klassik und neue Musik seien in New York fließender als in München. Bis jetzt, muss man dazu sagen, denn das ändert sich gerade nicht nur durch Gregor Hübners Festival, das er mit seinem Musikhochschulkollegen, dem Filmmusik-Professor Gerd Baumann, gegründet hat und im Club Milla in den Katakomben des Glockenbachviertels veranstaltet.
Den Auftakt beim Progressive Chamber Music Festival 2022 machen die Pianistin Marina Schlagintweit und der kolumbianische Gitarrist Oscar Mosquera. »Prisma Ambit« heißt ihr Duo-Projekt, mit dem sich die 30-Jährige vergangenen August bei den Munich Summer Jazz Weeks im Jazzclub Unterfahrt vorstellte. Sie lotet elektronische Klänge aus, findet darin den Reiz des, wie sie es nennt, »taktilen, physisch Greifbaren« und verknüpft ihre Experimente mit Elementen des Jazz. Auch bei dem Trompeter Joo Kraus, der nach Schlagintweit an der Reihe ist, kommen viele rhythmische Elemente aus dem Computer. Die musikalische Biografie reicht bei dem 55-Jährigen zurück bis in die 1990er Jahre, als er zusammen mit dem legendären Ulmer »Kraan«-Bassisten Helmut Hattler das Duo »Tab Two« gründete. In der Milla spielt er im Duo mit Festival-Organisator Gregor Hübner: »Joo kommt ein bisschen aus einer anderen elektronischen Ecke als ich, aber klar, wir machen viel mit Pedal und Loops.« Für den Rausschmeißer am ersten Abend hat Hübner das Quartett Munich Tetra Brass, vier Musiker, die dem weit verbreiteten Bläsersound a la »Classic meets Jazz« erfrischend entgegenwirken mit neuen, nicht weniger eingängigen zeitgenössischen Kompositionen.
Tags darauf setzen zum Auftakt die vier Münchner Streicher vom Paranormal String Quartet Hübners Ansatz fort. Wer denkt, ach, alles klar, Streicherjazz in klassischer Besetzung, kann hier unerhört Neues erleben, obwohl vor den »Paranormalen« Ensembles wie das Kronos Quartet, das Modern String Quartet und das Turtle Island String Quartet den Weg in ihre Richtung gebahnt haben. Symphonische Klangwelten wiederum verknüpft die mongolische Pianistin Shuteen Erdenebaatar mit der Tradition ihrer Heimat Ulan Bator und dem Jazz. Dafür gewann sie in diesem Jahr den BMW Young Artist Jazz Award. Sie beweise, so die Jury, dass der Jazz wie keine andere Musik in der Lage sei, »verschiedenste Einflüsse zu kreativen neuen Klängen zu amalgamieren«.
In ähnlicher Suche nach Neuland unterwegs ist das Munich Composers Collective, mit dem der zweite Tag des Progressive Chamber Music Festival 2022 ausklingt. Der Name ist Programm. Es werden nur Kompositionen von Bandmitgliedern gespielt. Als Vorbild dient das in den 1980er Jahren gegründete Frankfurter Ensemble Modern und seine basisdemokratische Struktur. Jede und jeder ist alles: Organisator, Inspirateur, Interpret, Komponist. So zumindest die Idee. Naja, resümiert Hübner, bislang bleibe doch viel bei ihm hängen. Aber er wolle das ändern. Langfristig denkt der musikalische Netzwerker Hübner sogar daran, dass es einen Austausch zwischen dem Festival in München und dem gleichen seiner Art in New York gibt. »Ideal wäre, wenn Münchner Musiker dort spielen«, sagt Hübner mit einem herzhaften Lachen, »und von der New Yorker Szene Musiker nach München kommen.« ||
PROGRESSIVE CHAMBER MUSIC FESTIVAL 2022
Milla Club | Holzstraße 28 | 16./17. Nov. | jeweils 20 Uhr
Tickets online
Weitere Vorberichte finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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