»Musik zum Anfassen« will nicht erklären, sondern erleben lassen. Ein Konzept für Kinder, das im Hoch X ausgezeichnet funktioniert. Eine exklusive Online-Kritik von Dirk Wagner.

»Musik zum Anfassen« im HochX

Von wegen schwierig!

Musik zum Anfassen

Hier wird Neue Musik (an)fassbar gemacht | © Irina Pasdarca

Betrachtet man die Musiktitel, die die Industrie normalerweise in ihren Veröffentlichungen für Kinder vorschlägt, dann sucht man dort in der Regel vergebens nach den Namen bedeutender zeitgenössischer Komponisten. Die Musik eines George Crumb oder eines John Cage wird schließlich auch in Veröffentlichungen für Erwachsene nur von einem auffallend kleineren Interessentenkreis goutiert. Doch die neunjährigen Grundschulkinder, die am Donnerstagmorgen zum Konzert der Münchner Musikerinitiative »Musik zum Anfassen« im Theater HochX kommen, sind begeistert von George Crumbs »Vox Balaenae« und von John Cages »Living Room Music«. Niemand konstatierte hier, dass diese Musik doch zu anspruchsvoll sei, um sie ohne entsprechende Vorbildung zu verstehen. Tatsächlich erhob ja auch niemand den Anspruch, diese Musik überhaupt erst verstehen zu wollen.

Stattdessen fanden die anwesenden Kinder im Publikum Gefallen an ihr, ebenso wie sie auch die Eigenkompositionen der Musiker auf der Bühne wertschätzten. Etwa Heinz Friedls uraufgeführtes »Big Blue« oder Christoph Reiserers Saxophon-Solo »So Far – Short«. Die Innstrumentalisten des vom Flötisten Christian Mattik geleiteten Vereins »Musik zum Anfassen« haben schon oft zusammen mit Kindern musiziert und komponiert. So sind sie spürbar trainiert in der Fähigkeit, Kinder auch mit ungewohnten und womöglich irritierenden Klängen zu begeistern. So öffnen die Musiker zum Beispiel das Gehör ihres Publikums im Theater Hoch X, indem sie es bitten, für ein dargebotenes Musikstück bereitgestellte Augenmasken aufzusetzen. Nun können die Zuschauer nichts mehr sehen und werden zu Zuhörern. Dann verteilen sich die Musiker im gesamten Raum rund um die Zuhörer und gewinnen ihren Instrumenten eigenwillige Klänge ab. Dafür bläst der Violinist auch mal in den Geigenkorpus, als wäre die Geige ein Blasinstrument. Die Zuhörer wissen freilich nicht, dass sie da auch eine Geige hören neben all den anderen Klangquellen, die nun auch noch umherwandeln. Und auch, dass sogar gewöhnliche Kleiderbügel zum Einsatz kommen, wird niemandem verraten.

In weiteren Darbietungen wird mittels kleiner Kameras das Innenleben der gespielten Instrumente auf einer Leinwand gezeigt. Da sieht man dann die Hämmerchen des Konzertflügels, wie sie auf die gespannten Saiten schlagen. Oder wie das Licht durch die Klappen des Saxophons ins Innere des Instruments dringt. Aber auch solche zusätzlichen Informationen bleiben ohne weitere Erläuterungen. Wer will, kann die Zusammenhänge zwischen dem gezeigten Bild und dem gespielten Ton herleiten, ansonsten sind das eben nur spannende Illustrationen zur spannenden Musik. Einer Musik, die die Kinder dann auch selbst gestalten dürfen, stampfend, trommelnd, zischend und schlagend. Alles übrigens ohne eigene Instrumente, dafür aber begleitet von den Instrumentalisten von »Musik zum Anfassen« auf der Bühne.

Nach dem Konzert sind die Kinder schließlich eingeladen, persönlich mit den Musikern zu sprechen. Prompt bilden sich kleine Fan-Gruppen um die einzelne Performer, die bereitwillig Fragen zu ihren Instrumenten beantworten. Ein Stück, das sie im Nachhinein besonders toll fand, hätte es aber nicht gegeben, erklärt derweil eine gefragte Schülerin. Und dann ergänzt sie mit einer beneidenswerten Logik, dass das aber auch gar nicht möglich sei, weil sie schließlich alles im Konzert toll gefunden habe, und zwar ganz besonders! Etwaigen Vertretern der Musikindustrie sei an dieser Stelle gesagt: »Musik zum Anfassen« hat den Kindern nicht etwa die Angst vor einer vermeintlich schweren zeitgenössischen Musik genommen. Sie hat stattdessen eine solche Angst gar nicht erst aufkommen lassen! Versuchen Sie das doch auch einmal in Ihrem Programm. Das Kinderkonzert »Countdown 2.0« von »Musik zum Anfassen« belegt jedenfalls: Es funktioniert, und zwar besonders!

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