Der umtriebige und international erfolgreiche Choreograf Diego Tortelli ist mit seinem neuen Münchner Projekt nichts weniger als der Weltformel auf der Spur.

Diego Tortelli. God’s Formular

Tetris mit Rosinante

diego tortelli

Miria Wurm und Diego Tortelli © Marie Gryzka / rue nouvelle

Läuft bei ihm! Erst im Juli hat Diego Tortelli bei der Biennale Danza in Venedig reüssiert, nachdem sein Projekt »Fo:No« sich dort 2021 gegen 129 Einsendungen italienischer Künstler durchsetzen konnte. Mit dem erstmals ausgeschriebenen Preisgeld hat er einen Abend kreiert, in dem es um die Beziehung zwischen Stimmapparat, Körper und Identität geht, angetrieben von persönlichen Erfahrungen Tortellis – der Stimmband-Krebserkrankung seines Vaters –, drei Tänzern, einem Schwarm von Standmikrofonen und einem Beatboxer. Im September war »Fo:No« auch bei der Tanzmesse NRW zu Gast und die Jahrbuch-Ausgabe der Zeitschrift »Tanz« feierte den 35-Jährigen als »Newcomer«.

Choreografische Terrainerkundungen zwischen Biologie und Technik, Motion und Emotion, Wissenschaft und Poesie sind ganz nach dem Geschmack des 1987 in Brescia geborenen Tortelli, der nach einem abgebrochenen Ballettstudium an der Mailänder Scala in Valencia, Chicago, Marseille, Barcelona und Den Haag tanzend die Fragmente seines heutigen Bewegungsidioms aufsammelte, bevor er sich unter anderem bei der Compagnia Aterballetto – Fondazione Nazionale della Danza, der führenden zeitgenössischen Tanz-Kompanie Italiens, als Choreograf auszuprobieren begann. In München, wo Tortelli zuerst mit Richard Siegals The Bakery und dem Ballet of Difference eintanzte, steht der international Umtriebige dank seiner hier ansässigen Dramaturgin und Produktionsleiterin Miria Wurm seit 2019 mit beiden Beinen in den städtischen Fördertöpfen. Ihre gemeinsame neue Produktion »God’s Formular« kommt am 21. Oktober im Schwere Reiter heraus.

Sie ist die vierte in München, wo es nach dem gemeinsamen Einstand mit dem installativ-futuristischen Jugendstück »Shifting Perspective« mit sprechenden Titeln und hochkomplexen Aufgabenstellungen weiterging. Letztere konnte man getrost wieder beiseiteschieben, bevor man sich Abenden wie »Snow Crash« oder dem Kurzstück »Hole in Space« aussetzte. Ob es nun um den Homo Digitalis auf der Suche nach sich selbst und den zunehmend schwierigeren Kontakt mit anderen ging oder um die erste Videochat-Installation, die 1980 für drei Tage New York mit Los Angeles verband. Schließlich geht es Tortelli vor allem darum, dass am Ende keine zwei Zuschauer dieselbe Erfahrung machen. Dafür überführt er aufwändig recherchierte Inhalte in Layer, die Mitstreiter wie die Videokünstlerin Lea Heutelbeck, Lichtdesigner wie Roman Fliegel oder Alexandre Saunier und Komponisten wie Federico Bigonzetti gestalten. In Summe ergeben sie pointillistische Stimmungsbilder oder eine kalkulierte Reizüberflutung.

Als Choreograf pflegt der Mann mit der obligatorischen Basecap, von dem schwer zu sagen ist, ob er schneller denkt oder spricht, einen geometrischen, quecksilbrigen Stil. Temporeiche, dissoziierte Bewegungen mit schnellen Kontraktionen und harten Cuts verlangen technisch versierte Tänzer, die er nie nach Gender besetzt. In dem Video zur Person, das der Biennale-Leiter Wayne McGregor für seinen Kinotag drehen ließ, spricht Tortelli von seiner »Besessenheit« von der Präzision selbst kleinster Bewegungen und von Tänzern, die genau spüren müssen, was ihre Körper tun – und vielleicht noch mehr, was nicht. In seiner »Tetris-Technik«, wie er es nennt, werden ganze Bewegungspassagen ausgelassen und aus ihrem natürlichen Fluss geschnitten. Gelenke wirken wie Scharniere, Glieder wie Hebel und aus im Grunde einfachen Bausteinen entstehen hyperkomplexe Formationen. Darunter macht er es nicht.

In »God’s Formular« ist der Choreograf nun nichts weniger als den großen kosmischen Geheimnissen auf der Spur und der Schwierigkeit, sich heute als Wissensdurstiger zu orientieren. Angesichts des allgegenwärtigen News-Overkills esoterische von seriösen Informationen zu unterscheiden, ist das eine.Die Beschränktheit des menschlichen Wahrnehmungsapparates kommt hinzu. Unter anderem mit dem Buch »Die Gottesformel – die Suche nach der Theorie von allem« des String-Theoretikers Michio Kaku als Navigationsassistent und im vollen Bewusstsein, »dass das Medium Tanz hierbei eher eine Rosinante in einer Don Quichott’schen Aufgabenstellung« ist, beschreibt der Abend den leeren Raum des Schwere Reiter mit Tanz, Musik und Licht. Planmäßig im Oktober, »da wir«, wie Tortelli und Wurm schon in der Projektskizze schrieben, »laut einem bekannten Numerologen schon im Oktober die Energie des Jahres« spüren. Und für die Dauer von 45 Minuten – »da die 45 eine starke und schöpferische Zahl ist«. Der Rest ist Physis und Physik. ||

GOD’S FORMULAR
Ein Tanzprojekt von Diego Tortelli & Miria Wurm
Schwere Reiter | 21./22. Oktober | 20 Uhr
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