Auf die drängenden Fragen der Zeit reagieren die Künstler*innen im Programm der Tanzwerkstatt Europa.

Tanzwerkstatt Europa 2022

Der Körper und seine Fähigkeiten

tanzwerkstatt europa

Die Tanzwerkstatt Europa eröffnet mit »Passages« von Noé Soulier © Bruno Simao

Die Tanzwerkstatt Europa ist das Festival ohne Agenda, wie Begründer Walter Heun so gerne betont. Macht ja auch irgendwo Sinn, denn dieses internationale Treffen des zeitgenössischen Tanzes in München ist praktisch, nahbar und vernetzend – und weniger ein Bühnenfestival. Also gibt es kein Programm, in dem sich ein Kurator künstlerisch profiliert, sondern eben Workshops, Treffen, Performances. Doch so bodenständig das immer kommuniziert wird, die Perfomances repräsentieren eben doch auch immer das, was künstlerisch gerade auf der Höhe der Zeit stattfindet. Große Kunst, ganz nebenbei also, auch dieses Jahr wieder, nachdem die Anti-Festival-Programmatik im vergangenen Jahr tatsächlich ein bisschen verlassen wurde – 30 Jahre Tanzwerkstatt Europa hieß es da und das bedeutete auch: eine Rückschau auf die eigene Geschichte.

2022 heißt es nun zunächst: Man darf sich wieder begegnen. Wie schön! Das ist insbesondere für die Workshops von besonderer Kraft. Tanzworkshops in Zeiten von Social Distancing – das widerspricht sich aus der Sache heraus. Aber auch das Performanceprogramm ist eine Art der Wiederbegegnung. Viele Künstler*innen, die hier bereits auftraten, kommen zurück: Frédérick Gravel etwa, Louise Vanneste oder Noé Soulier. Mit dem Stück »Passages« von Soulier eröffnet die Tanzwerkstatt dann auch (2.8.) – in der Muffathalle. Das wirkt dann fast ein wenig konventionell. Denn »Passages« ist ein flüchtiges und flexibles Stück – entstanden 2020, also schon zu einer Zeit, in der die Aufführungsbedingungen sich radikal verändert hatten. »Passages« ist eine Antwort darauf. Es kann in Parks, Museen, Wohnhäusern oder Kirchen aufgeführt werden, es braucht keine Szenerie, keine Bühne, keine musikalische Technik. Ein Stück für den Instant-Gebrauch, sozusagen, genau das Richtige für eine Zeit, in der die Selbstverständlichkeit, mit der Livekunst in unserer Gesellschaft stattfand, infrage gestellt wurde. Dem hinzugesellt wird ein weiteres Stück von Soulier, das die andere Seite der künstlerischen Reaktion auf die Corona-Maßnahmen spiegelt: »Fragments«, ein Film, der den Werdegang Souliers tänzerisch reflektiert.

Louise Vanneste spiegelt in ihrem Stück »Earths« (9.8.) hingegen ein anderes brennendes Problem unserer Zeit: Der Mensch und sein Verhältnis zur Erde. Oder anders gefragt: Sollte man die Hand beißen, die einen füttert? Ein kleines eigenes Ökosystem lebt auf der Bühne der Muffathalle, vier Tänzer werden Teil davon und erleben, wie die Natur ihre Rechte zurückbekommt. Und Frédérick Gravel zeigt die Kehrseite davon in dem Solo »Fear & Greed« – die Wut darüber, dass der Mensch oder wenigstens die Kunst es nicht hinbekommen, die zerstörerische Kraft des Kapitalismus zu überwinden. Das Ganze zur aggressiv swingenden Rockbandmusik von Philippe Brault, ebenfalls in der Muffathalle (11.8.).

Mehr auf die (gesellschafts-)politischen Auswirkungen von Zwischenmenschlichkeit zielen Alexander Vantournhouts »Through the Grapevine« und Joe Morans »Arrangement«. Ersteres als sinnlicher Pas de deux zwischen zwei Männern (7. 8.). Und Moran, der mit der skulpturalen Körperlichkeit von Tanz Gender, Patriarchat und Maskulinität zerschlagen möchte (5.8.). Den Körper, dessen Fähigkeit und Veränderlichkeit, stellt auch Isabelle Schad in den Mittelpunkt mit ihren Drehstudien »FUR, Rotations und Turning Solo 2« (4.8.). Der Choreograf Jonathan Burrows zeigt in »Rewriting and Science Fiction« (6.8.) gemeinsam mit dem Komponisten Matteo Fargion wiederum die körperliche Reaktion auf Musik und deren gemeinsames Fortschreiben.

Und so gibt es also in diesem Jahr in erster Linie, ganz nebenbei, die aktuellen Standpunkte des zeitgenössischen Tanzes zu sehen. Und trotzdem: Die Kunst mit politischen, sozialen und gesellschaftlichen Aufgaben zu versehen, diese Lesart ist so präsent wie selten im Programm der Tanzwerkstatt. Das ist aber keine Agenda. Sondern schlicht drängender Zeitgeist. ||

TANZWERKSTATT EUROPA 2022
Verschiedene Spielorte | 2. bis 12. August
komplettes Programm (Workshops, Vermittlung und Performances) sowie Tickets gibt es hier.

Weiteres zum Tanzgeschehen in München finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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