Trendige Nostalgie oder alltägliches Fundament? Von Schallplatte, Buch und Museumsbesuch kann rätselhafter Zauber ausgehen. Ist der gerade heute nicht notwendiger denn je? Ein Ausflug zum Analogen, Digitalen und zum Menschen, der irgendwo dazwischen das Besondere sucht.

Nostalgie und Ritual

Das Wahre und die Ware

nostalgie

Wie viel spannender wird doch das Leben, wenn man sich mehr Rituale zulegt! Im Grunde kann man alles zum Highlight des Tagesablaufs aufblasen: die erste Zigarette, das Abrufen der E-Mails, das allabendliche Anschalten der Tagesschau. Wird der Ablauf eines dieser Rituale gestört, gerät das komplette System ins Wanken und der erste Schritt in die Existenzkrise ist getan. Oder um mal ein bisschen tiefer zu stapeln: Der Tag ist um ein kleines Stück versauter. Dem alltäglichen Ritus haftet mitunter ein kleinbürgerlicher Mief an, doch wenn man mal ehrlich ist, steht dahinter mehr als lediglich der Wunsch nach Struktur. Ein gewisser mystischer Zusammenhang wird offensichtlich im Ritual des Kulturliebhabers, der für eine bestimmte Zeit die Gefühlsund Gedankenwelt eines völlig fremden Menschen in sich aufnimmt und eine neue Welt der Empfindungen in sich selbst gebiert. Dazu kommt die rituelle Handlung, das Aufschlagen des Buches, das Auflegen der Platte und natürlich das Platznehmen im dunklen Zeremoniensaal, auch Kino oder Theater genannt. Dass alldem eine magische Komponente innewohnt, ist vermutlich jedem bekannt, für den Kultur ein Lebensmittel ist. Braucht man am Ende vielleicht nicht nur feste Punkte für das tägliche Leben, sondern sogar etwas Festes in der Hand?

Die Macht der schwarzen Scheibe

Auf den ersten Blick scheint das zumindest dem leidenschaftlichen Musikhörer ein Verlangen zu sein. 2,11 Millionen verkaufte Schallplatten allein in der Vorweihnachtswoche 2021! Das ist nicht weniger als die stärkste Verkaufswoche seit 1991. Nun soll das hier nicht der x-tausendste Text über das Wiederaufkommen der LP sein. Doch gerade am Vinyl sieht man, welchen Reiz das Analoge haben kann. Ein riesiges Cover, das man gerne auch zur Zierde der Wohnung nutzen kann, das Auflegen, das Umdrehen, das Knistern im Hintergrund – irgendwo ist das alles mehr als der Klick auf die vom Algorithmus vorgefertigte Playlist. Natürlich lässt sich darüber streiten, ob die LP-Begeisterung wirklich das bewusste Bekenntnis zum analogen Ritus ist oder eine Retroerscheinung, die wieder im Sand der Modewellen verlaufen wird. Viel interessanter ist das ganz spezifische Hörverhalten. Neben besagtem Aktivwerden ist da auch die Tatsache, dass man eine Platte eher komplett durchhört, sie als zusammenhängendes Werk wahrnimmt und nicht wie ein Rosinenpicker herumskippt. Besteht der Reiz nun darin, dass das alles so aus der Zeit gefallen ist, oder braucht es zum wirklichen Genuss den Gegenstand als Mittler? Der Schreiber dieser Zeilen (geboren im Jahr der ehemals stärksten Verkaufswoche) neigt eher zu Zweiterem. Ein wirklich gutes Album »hat« er erst, wenn er es ins Regal stellen kann. In diversen Subkulturen hat übrigens auch die Kassette wieder Einzug gefunden. Zwar meist als limitierte Liebhaberangelegenheit, aber immerhin. Dass die MC als Trägermedium eher Nach- als Vorteile zu bieten hat, ist zwar bekannt, doch von ihrer Aura lassen sich anscheinend viele gern blenden.

Ein Hauch von Früher

Dieser Begriff muss hier natürlich ins Spiel kommen. Im Gegensatz zu Walter Benjamins Zeiten hat die Aura jedoch weniger mit der Einzigartigkeit zu tun, schließlich sind all die Platten, Bücher und DVDs an sich schon Teil der Massenproduktion. Mehr besteht sie darin, dass es das Werk ist, das man in Händen hält. Um welches Trägermedium es sich handelt, ist zweitrangig. Bei der heutigen dauerhaften Verfügbarkeit von gefühlt allem gibt einem der gezielte Kauf eine gewisse Art der Autonomie. Die Auswahl eines Buches, eines Albums, der
Besuch eines Museums, Kinos oder Theaters, bei dem man zwar nichts anfassen darf, doch in eine direkte räumliche Erfahrung eingebunden ist – das macht einen doch zum Herrscher über die eigene Zeit. Hier erlebt man doch das »Wahre« und lässt alle vergänglichen Informationen, Meinungen und Vorschläge des digitalen Molochs hinter sich. Klingt furchtbar nach Nostalgie, und das ist es auch. Die Bedeutung des neulateinischen »Nostalgia« greift dabei tiefer, ist die ursprüngliche Verwendung doch »Heimweh«. Nun kommt es oft vor,dass man dieses Heim im Grunde nie kennengelernt hat. Natürlich wird da romantisiert, verzerrt und aus dem Kontextgerissen. Aber die Frage, warum man nun das Heil in Nostalgie und Vergangenem sucht, ist weitaus interessanter als der reine Faktencheck. Was ist es nun genau, was in der heutigen Zeit fehlt und uns ansatzweise in der »traditionellen« Kunstrezeption befriedigt?

Digital banal, analog exklusiv?

Das Ritual ist an sich schon etwas, das sich vom »Üblichen« unterscheidet. Nun kann man natürlich alles Mögliche zum Unüblichen erklären (Mails, Zigaretten, »Tagesschau«) oder sich eine Alternative dazu suchen. Und für viele ist das Üblichein diesen Tagen das Digitale. Der Überfülle an Angeboten haftet schon lange nichts Außergewöhnliches mehr an. Smartphone und Tablet sind fester Bestandteil der alltäglichen Routine. Das ist nicht einmal ein offenes Geheimnis, sondern überhaupt keines mehr. Man könnte wunschlos glücklich sein, bekommt man doch alles Begehrte in Windeseile. Es könnte an den Extras liegen, die man ungewünscht nebenbei bekommt. Die gepflegte Weltflucht funktioniert eben nicht so richtig, wenn die Mahler-Sinfonie durch die Reklame für Podcast XYunterbrochen wird. Mit dem traditionellen Medium passiert das eher selten, sieht man mal von der Werbung für Pfandbriefe in alten Rowohlt-Büchern ab. Aber zumindest hat mandoch die Möglichkeit, so viel zu sehen und zu hören wie nie zuvor. Da stellt sich dann allerdings die Frage, was man davon »wirklich« noch verinnerlicht.

Der Wunsch nach Vereinfachung ist naheliegend. Man darf es aber schon sagen: Sie wird nicht kommen. Und zwischeneiner Kassette und einem Buch kann man sich auch mal dieFrage stellen, ob das wirklich so wünschenswert wäre. Der wohl wichtigste Punkt: Die Qualität des Kunstwerks steht im Vordergrund. Ein guter Film kann auch als Stream und ein grandioses Buch als PDF funktionieren, ob eine Fotografie das Innerste bewegt, hängt nicht davon ab, ob sie mit der Digital- oder Polaroidkamera geschossen wurde. Und überhaupt, was für ein analoger Ritter wäre man ohne das Internet? Nicht nur das Kaufen, sondern auch das Entdecken funktioniert am einfachsten online. Und ohne Instagram würde schließlich auch niemand sehen, was man Neues im Schrank stehen hat. Umnoch einmal kurz auf den Schreiber zurückzukommen: Der wuchs zwar mit MC, VHS und CD auf, doch die wirklich prägenden Dinge wurden ihm letztendlich durch das World Wide Web zugetragen.

Physisch erleben und erinnern. Nostalgie fürs Regal.

Schwieriger wird es schon mit der analogen Veranstaltung. Der Besuch von Theater, Kino und Konzerten ist ein Ritual, das man nur bis zu einem gewissen Punkt selbst ausführt. In erster Linie wird man eingesogen, und dieses Gefühl kann eben durch kein Online-Ausweichprogramm zustande kommen – so gut die Angebote auch sein mögen und so notwendig sie für die Künstler sind. Das Besondere ist nicht nur das Werk allein, sondern auch die Erinnerung (die Nostalgie eben), die man damit verbindet. Das kann die Sprachlosigkeit am Ende des Konzerts sein, das Ende der langen Suche nach der richtigen Platte oder der Moment, in dem man das Buch im Café beendet und versucht, die Tränen zurückzuhalten. Das bequeme Abspielen nebenbei kann oft den schalen Beigeschmack von reinem Konsum haben, der nicht zu hundert Prozent befriedigt. Und in der Zeit, in der man zu Hause festsitzt, kann es schon ein Highlight sein, wenn der DHL-Bote die neueste Errungenschaft ins Haus bringt.

Es ist offensichtlich, dass auch das in stumpfen Konsumismus führen kann. Oft ist die Nostalgie eben leider auch nur eine Ware. Aber sie kann auch zur Grundlage von Selbstreflexion werden. Was genau geben mir die Relikte aus alten Zeiten? Was fehlt mir im Hier und Jetzt? Reite ich lediglich auf der Modewelle oder versteckt sich da doch ein wahrer Kern? Das Resultat kann nicht nur ein deutlicheres Selbstbild, sondern auch ein schärferer Blick auf das sein, was einem wirklich wichtig ist. Dann braucht es auch keine flächendeckende Rückkehr des Analogen und keine Entschleunigung des Digitalen mehr. Vielleicht merkt man auch, dass das Ritual dadurch noch intensiver wird – und dass es eigentlich nebensächlich ist, ob die Zeremonie durch die LP oder den Stream begleitet wird. Wobei erstere natürlich den überschüssigen Platz im Regal dekorativer beseitigt. ||

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