Mit »Die Träume der Abwesenden« gelingt Stephan Kimmig ein berührender Abend über die generationenübergreifenden Wunden der Schoa.

»Die Träume der Abwesenden« im Residenztheater

Überlebensschuldgefühle

die träume der abwesenden

Die Überlebenden feiern das Leben (Ensemble) | © Sandra Then

»Wir sitzen hier anstelle von anderen«, sagt Barbara Horvath als Ada in Stephan Kimmigs Inszenierung »Die Träume der Abwesenden« und schließt mit diesem schlichten Satz das wunde Herz dieses Abends auf. In »Leas Hochzeit« von 1982, »Heftgarn« (1996) und »Simon« (2002) begleitet die niederländische Autorin Judith Herzberg eine jüdische Familie über drei Generationen hinweg. Alle Figuren stehen im Schatten der durch den Holocaust Vernichteten, greifen nach dem Leben und nacheinander und rutschen immer wieder ab – niedergedrückt von »Überlebensschuldgefühlen« wie der Patriarch Simon und seine Frau Ada, um ihr Grundvertrauen gebracht die Jüngeren wie deren Tochter Lea, die bei nichtjüdischen Pflegeeltern versteckt wurde, um der Deportation zu entgehen. Weiterleben ist ihnen Pflicht. Weiterleben ist ihnen Bürde.

Herzbergs meisterliche Menschen- und Schicksalsskizzen haben harte Konturen und warme Untertöne. Und die Regie folgt ihr in beidem. Der autobiografisch grundierte Stoff, an dem die heute 87-Jährige zwei Jahrzehnte lang spann, lässt auch Kimmig nicht los. 2011 hat er am DT Berlin die ganze Trilogie unter dem Titel »Über Leben« inszeniert. Für deren Neuauflage mit anderem Namen, anderen Schauspielern, anderen Kostümen, anderer Musik und anderer Bühne hat er ein kleines, aber eher marginales Zwischenspiel eingefügt und mit der Chronologie gebrochen. Statt der erzählten Zeit von 1972 bis 1998 zu folgen, beginnt er mit dem Ende. Am Totenbett von Simon knistert und knallt es emotional in der Familie und in dem weiten Stuhlkreis, zu dem sich das 15-köpfige Ensemble gruppiert hat. Warum, versteht man erst, nachdem man den ganzen Weg gegangen ist. Im Laufschritt vom Jahr 1972, als Lea zum dritten Mal heiratet, bis zum besagten Ende, als auch Isaac – der Sohn ihres Vaters Simon mit Dory, der Ex ihres Auch-schon-wieder-Ex Nico – im Familienrund seine Wut versprüht. Diesen Isaac spielt Max Rothbart, der zugleich als Platzhalter für alle Noch-Ungeborenen und Toten durch den Abend geistert und wie ein Zauberer die Licht und musikalischen Stimmungen dirigiert. Das ist mal wunderlich schön, gegen Ende aber auch zunehmend kapriziös und verwandelt die Bühne in eine Art Traumlabor. Träumen die Toten die Lebenden oder vice versa?

Die wunderbare Barbara Horvath spielt die von den Toten und ihren eigenen »Überlebensschuldgefühlen« gebeutelte Ada auf der Nahtstelle zwischen verträumt und traumatisiert ins Zentrum einer fünfstündigen Inszenierung, die Herzbergs tollen Text glänzen lässt und als Ensembleleistung weitgehend überzeugt, auch wenn es gegen Ende ein bisschen routiniert und konventionell wird. Man kann unmöglich alle nennen, die hier ihre Figuren so haltlos an den Lebenden vorbeilieben lassen. Dory, bei Caroline Conrad so kalt wie verletzlich, imaginiert ihren späten Sohn als Ebenbild ihres Vaters, den sie nie kennenlernen durfte. Robert Dölles versoffener Zwart ist schmerzhaft unempathisch für alle außer seiner im KZ ermordeten Frau. Aus Hanna Scheibe, die Leas »Kriegsmutter« Riet spielt, purzeln Gedanken wie »Es sind doch so viele umgekommen. Warum sind dann ausgerechnet diese Leute am Leben geblieben?« völlig unzensiert heraus. Ästhetisch braucht es da nicht mehr viel obendrauf. Nur einzelne Ausbrüche in zackige, abrupt einsetzende Tänze, wo die Worte versagen (»Stayin’ Alive«) – und die leere, im Mittelstück mit Plastikplanen verhangene Bühne, über der Katja Haß eine große filigrane Lichtskulptur schweben lässt – mit einer hellen und einer etwas größeren dunklen Seite – wie in diesen und vielen anderen jüdischen Leben. ||

DIE TRÄUME DER ABWESENDEN
Residenztheater | 13., 28. Nov., 11., 26. Dez. | 18 Uhr (sonntags 17 Uhr) | Tickets: 089 21851940

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