Der Zauber des Neubeginns: Das Interimsquartier in Sendling nimmt immer mehr Gestalt an. Es soll während der Gasteig-Sanierung die Münchner Philharmoniker, die Stadtbibliothek, die Volkshochschule und die Hochschule für Musik beherbergen. Für den 8. Oktober ist die Eröffnung der Ausweich-Philharmonie geplant. Ein Besuch auf der Baustelle.
Philharmonie in München:
Kulturkraftwerk
Ein breites Strahlen liegt auf ihren Gesichtern. Die Freude ist ihnen anzusehen. Ihre Augen leuchten. »Das hier ist unser Baby«, sagen Paul Müller und Christian Beuke. Mit einer gesunden Portion Stolz führen sie durch das Gebäude – Hallen, Gänge, Treppenhäuser. Ihr »Baby« ist ziemlich groß geraten, jedenfalls größer als auf den ersten Blick vermutet. Paul Müller ist Intendant der Münchner Philharmoniker und Christian Beuke sein Stellvertreter. Ihr Baby, das ist die Ausweich-Philharmonie in Sendling. Sie ist Teil des großen Kulturquartiers, das derzeit auf dem StadtwerkeAreal an der Isar auf Flaucherhöhe entsteht – neben dem großen Kraftwerk.
Dieses »Kultur-Kraftwerk« wird nicht nur die Münchner Philharmoniker während der Generalsanierung des Gasteig in Haidhausen beherbergen, sondern auch die Stadtbibliothek, die Volkshochschule und die Hochschule für Musik. In unmittelbarer Nähe der neuen Philharmonie befindet sich zudem der Neubau des Münchner Volkstheaters. Beides, das Sendlinger Interims-Areal wie auch der Volkstheater-Neubau, sollen im Herbst eröffnet werden. Das setzt wiederum viel kreatives Potenzial frei, aber alles der Reihe nach: Jetzt führen Müller und Beuke erst einmal durch ihr »Baby«.
Offene Symbiose aus Denkmal und Neubau
Als eine Art Multifunktions-Foyer dient die große ehemalige Trafohalle E, eine denkmalgeschützte Industrie-Architektur aus den 1920er Jahren mit Glasdach. Heute ist das wieder modern, als cooler Retroschick. Für den eigentlichen Konzertsaal wäre diese Halle E zu schmal. Dafür aber bietet sie viel Platz für Gastronomie und Garderoben, für eine Ausleih und Rückgabestation der Münchner Stadtbibliothek, einen Infostand der Münchner Volkshochschule, einen Kinosaal für 100 Leute sowie natürlich auch eine Abendkasse und das Abonnement-Büro der Philharmoniker. Auch einen »Saal X« wird es daneben geben, er soll die Black Box im Gasteig ersetzen. Zum großen Saal der Philharmonie gelangt man über drei Durchgänge. Sie befindet sich in dem kubischen Neubau, der direkt an die historische Halle grenzt. Alt und neu greifen ineinander und gehen ineinander über, alles integriert, aber trotzdem jeweils getrennt – weil es der Denkmalschutz so will. Und schon steht man in der eigentlichen Herzkammer des »Babys«: in der Interims-Philharmonie. Es riecht nach frischer Farbe, und das hat auch einen triftigen Grund. Die Holzverkleidung des Saals soll nämlich ganz in Schwarz gehalten sein, so will es der Architekt. Nur die Bühne bleibt hell.
Schon allein das erinnert an das neue, 2014 eröffnete Konzerthaus im polnischen Katowice in Schlesien. Auch dort wurde die Akustik von dem Top-Akustiker Yasuhisa Toyota betreut. Ähnlich wie in Katowice wird die Interims-Philharmonie in Sendling ein Raumkonzept aufweisen, das die klassische Schuhschachtel mit Elementen des Weinbergs ergänzt: eine Art Synthese. Für eine reine Schuhschachtel hätte die Länge des Saals nicht ausgereicht. Macht nichts, denn: Für die Qualität der SaalAkustik sind das Volumen und die Deckenhöhe entscheidend. Letztere liegt bei 17,50 Metern, plus weitere acht bis zehn Meter für die Technik.
Die Bühne kann von elf auf bis zu 15 Meter erweitert werden, ganz variabel. Hinter dem Orchester ist ein Rang mit 120 Plätzen vorgesehen, die auch für den Chor benutzt werden können. Sonst aber soll insgesamt Platz sein für etwa 1800 Menschen. Im Gasteig zählt die Philharmonie bis zu 2500 Plätze. Allein deshalb müssen die Abonnements der Münchner Philharmoniker neu geschnürt werden. So ein Umzug bedeutet eben in aller Regel sehr viel Arbeit, und das gilt zumal für ein großes Orchester samt Anhang. Für Müller und Beuke ist das offensichtlich alles andere als Stress, sondern die schiere Freude. Sie sprechen von einem »Zeichen der Hoffnung« in CoronaZeiten: ein »Lichtblick« und eine »Energie-Ressource«.
Diese »Energie-Ressource« brauchen sie auch, denn jetzt geht es für sie und das Orchester erst richtig los. Schon Anfang Juli soll eine erste Akustik-Probe steigen, bis schließlich am 8. Oktober die Philharmoniker ihren Interims-Konzertsaal offiziell eröffnen. Was sie dazu konkret vorhaben, soll am 20. Mai bekannt gegeben werden – dann mit Chefdirigent Valery Gergiev, so die jetzige Planung. Eines steht schon jetzt fest: Mit dem InterimsGelände haben die Philharmoniker generell viel vor. Sie sehen den Umzug nach Sendling auch als Chance, den Gasteig, in Haidhausen oft als »Kultur-Trutzburg« oder auch »Kultur-Vollzugsanstalt« geschmäht, zu öffnen.
Energetisch widerständig
»Das Orchester hat eine eigene Identität, die in der spätromantischen Sinfonik einen einzigartig warmen Klang hat«, holt Beuke aus. »Niemand würde und möchte das in Zweifel ziehen. Wir wollen aber das Gesamtbild anreichern«, und hierfür eignet sich das Areal in Sendling bestens. Das hat auch Chefdirigent Valery Gergiev sofort erkannt, als ihm das Areal erstmals gezeigt wurde. Allein die Nähe zur Elektro-Industrie und Energie-Gewinnung generiert da ganz wunderbare Metaphern. Von »Impulsen« ist zu hören, auch »Transformation« oder gar »Widerstand«. »Hier in Sendling haben wir ein ganz anderes Setting«, und dafür sprechen schon allein die insgesamt sechs Innen-Säle und die Freiflächen. Sie eröffnen dem Orchester fürwahr ein einzigartiges, schier grenzenlos kreatives Experimentierfeld. Schon der Umzug soll zelebriert und auch medial sichtbar gemacht werden, so Corona will. Ein bereits im Herbst geplanter Spaziergang des Orchesters durch sein künftiges Viertel konnte wegen der Pandemie nicht stattfinden und soll im Frühsommer nachgeholt werden. Für einen möglichen »Widerstand« ist ebenso gesorgt. Jedenfalls zählt Matthias Lilienthal zu den Beratern, die den Bezug der Interimsstätte künstlerisch mit »Impulsen« bereichern sollen. Als Leiter der Münchner Kammerspiele hatte sich der Theatermacher bekanntlich nicht nur Freunde an der Isar gemacht. Was allerdings gerne vergessen wird, ist das kleine Opernhaus, mit dem die Kammerspiele von Lilienthal das Musiktheater als Genre gründlich neubefragt haben – oder besser: liebevoll demontiert.
Hier könnte man erfolgreich anknüpfen, ganz zu schweigen von einer sozialen Öffnung der klassischen Musikkultur. Neu sind diese Ideen zwar keineswegs, aber trotzdem absolut lohnenswert: gerade in einer inzwischen ausgeprägt gentrifizierten Stadt wie München. Oder ist das alles nur ein abgegriffenes Klischee? Auch mit Christoph Marthaler wurden bereits Gespräche geführt. Der Theaterregisseur kommt selbst aus der Musikpraxis, und für Anfänge interessiert er sich ganz besonders. Deswegen möchte er mit fünfzehn bis zwanzig Philharmonikern über drei Wochen hinweg Ouvertüren und Eröffnungsmusiken präsentieren. Der italienische Performance und Klanginstallationskünstler Renzo Vitale soll ebenfalls mitmischen, in Gestalt eines Projekts rund um das Thema »Migration und Mobilität«.
Südliche Rundum-Integration
Damit die Philharmoniker nicht wie Außerirdische in Sendling wirken, sind generell im Viertel zahlreiche Maßnahmen geplant. Aus dem Orchester selber haben sich hierzu sechs Arbeitsgruppen zusammengetrommelt. Viel wurde da erörtert: vom Repertoire über neue Konzertformate bis hin zur konkreten Bekleidung. Da ist etwa von »After Concert Events« die Rede, ähnlich wie sie das Tonhalle-Orchester mit ihrer »tonhalleLATE«Schiene bereits veranstaltet. »Classic meets electronics«, lautet dort das Motto. Auch die umliegenden Clubs sollen integriert werden, wie das Partyschiff MS Utting. Mit der freien Szene, zumal dem Tanz, findet ebenfalls ein reger Austausch statt, und soziale Einrichtungen kommen hinzu – oder die alten Bauernhöfe, die rege Subkultur, der Großmarkt und die Arbeiter-Identität, die Sendling als Viertel besonders charakterisieren.
Die Münchner Philharmoniker möchten nicht nur, dass sie von den Sendlingern beschnuppert werden, sondern wollen auch ihrerseits den Stadtteil in seiner Gänze beschnuppern Eine Art Wanderschaft schwebt ihnen vor, zu der auch das Stamm-Publikum eingeladen ist. Ob das funktioniert, wird sich freilich erst zeigen müssen. Das Stamm-Repertoire der Philharmoniker wird jedoch ganz gewiss nicht zu kurz kommen, und wer sich um die Anbindung sorgt, kann ebenfalls beruhigt sein. Die UBahnStation Brudermühlstraße liegt praktisch um die Ecke, und mit ihr zwei Bushaltestellen. Beim BlumenGroßmarkt werden zusätzlich ParkplatzFlächen eingerichtet, und ein ShuttleService ist ebenfalls in Planung.
Verzahnter Einzug
Die Münchner Philharmoniker ziehen als erstes in das neue Interims-Quartier ein. Bis Frühjahr 2022 sollen die Münchner Stadtbibliothek, die Münchner Volkshochschule und die Musikhochschule folgen. Sie alle werden sich am Einzug der anderen jeweils aktiv beteiligen: in kreativer, interaktiver Form. Eines ist klar: »Wir haben nicht den Anspruch, dass der Bezug der Interimsstätte innerhalb eines Monats abgefeiert sein muss«, stellen Müller und Beuke fest. »Die Idee ist, über mehrere Spielzeiten hinweg ein wirklich langfristiges, nachhaltiges Programm zu entwickeln – mit stets neuen, ausbaubaren Kooperationspartnern.«
Auch mit dem ab Herbst benachbarten Volkstheater wird an gemeinsamen Projekten gearbeitet, vermutlich im Bereich der Education. Mit der Volkshochschule ist ein Ausbildungsprojekt für junge Ausländer geplant. Gleichzeitig möchten die Philharmoniker mindestens dreimal pro Spielzeit ein Festival steigen lassen, jeweils thematisch klar umrissen. Auch dies wird schließ lich helfen, der Ausweich-Spielstätte eine Identität zu geben: wenn das überhaupt nötig ist, Denn das Areal selber inspiriert ganz aus sich heraus. Rund 112 Millionen Euro kostet das KulturQuartier in Sendling, wobei die Summe auch die Planungs- sowie die gesamten Baukosten und die Mieten beinhaltet. Der Interimssaal selber soll rund 43 Millionen Euro kosten.
Flexibel zukunftsfähig
Für fünf Jahre sollen die Philharmoniker hier in Sendling wirken, möglichst ohne »plus x«. Was danach mit dem Gebäudekomplex passiert, steht gegenwärtig in den Sternen. Bislang gilt die Devise, dass danach alles wieder verschwindet. Allerdings wäre das reichlich absurd, denn: Der Neubau mit der Philharmonie besteht aus Stahl und Beton, ziemlich beständigen Materialien also, und müsste komplett abgerissen werden. Ursprünglich war eine Bauweise mit Holzmodulen geplant, wie sie die Oper in Genf während der Generalsanierung ihres Stammhauses bespielt hatte. Diese Opern-Holzhütte wurde hinterher wieder abgebaut, abtransportiert und wiederverwendet.
In München war eine hölzerne Interims-Spielstätte nicht möglich, wegen der Brandschutz-Auflagen. Noch dazu sollten auf dem Gelände ursprünglich Wohnungen entstehen, und die sind in München bekanntlich Mangelware. Doch das eine schließt das andere nicht aus, zumal das Gelände und die Gebäude groß genug sind. Eines steht indessen zweifelsfrei fest: Als dauerhafte Heimat für das Symphonieorchester desBayerischen Rundfunks (BR) und damit als Alternative zum geplanten neuen Konzertsaal im Werksviertel hinter dem Ostbahnhof ist diese Ausweich-Philharmonie nicht geeignet.
Genau darüber wird in Teilen der Münchner Presse immer wieder spekuliert, aber: Dafür sind die Verhältnisse viel zu beengt, und zwar schon allein im Backstage-Bereich. Die Anzahl der Stimmzimmer und Garderoben für die Musiker ist reduziert. Für das Orchester gibt es im Interimssaal deutlich weniger Fläche als im Gasteig, und das gilt zugleich für das gesamte Gelände. Das Areal in Sendling weist insgesamt ein Drittel der gesamten Grundfläche auf, die im Gasteig in Haidhausen zur Verfügung steht. Ob zudem die Verhältnisse im Konzertsaal selber für eine riesenhaft besetzte Mahler-Sinfonie ausreichen, das wird letztlich auch erst der Praxistest zeigen. Eine »Sinfonie der Tausend«? Vielleicht eine »Sinfonie der Vierhundert«, allerdings ohne Orgel. Die wird nämlich in der Interims-Philharmonie in Sendling nicht eingebaut. Die Ausweich-Spielstätte sollte eben kostengünstig und platzsparend sein, und genau das ist gleichzeitig ihre zentrale Stärke.
Der Saal strahlt eine große Intimität aus, was bedeutet, dass er auch für kleinere Besetzungen bestens funktioniert. Noch dazu fällt schon jetzt die unerhörte Fazilität auf, womit eine flexible Nutzung mit unterschiedlichen Formaten ganz klar möglich ist. »Das muss unbedingt bleiben!«, soll Valery Gergiev bereits frühzeitig ausgerufen haben. Er hat dabei nicht zuletzt ein Education-Gelände im Sinn. »Das war sofort die Idee von Valery Gergiev«, berichtet Paul Müller.
Schon allein deswegen dürften auch die Philharmoniker selber dem Sendlinger Quartier treu bleiben, wenn sie wieder ihren Stammsitz in Haidhausen beziehen. Noch dazu ist es kein Geheimnis, dass es für kleinere und mittelgroße Klangkörper in München zu wenige und kaum geeignete Räume gibt. Das ist nicht nur für Ensembles aus München und Umgebung ein Problem. Tatsächlich machen Originalklang-Orchester oder Spezialensembles für zeitgenössische Musik aus dem In und Ausland bislang oftmals einen großen Bogen um München, weil geeignete Örtlichkeiten fehlen. Mit der Philharmonie in Sendling stünde ihnen eine kreative Spielwiese mit Top-Akustik zur Verfügung. Genau das berührt wiederum die generelle Frage nach Tourneen und Gastspielen. Schon jetzt steht fest, dass die Corona-Pandemie wie auch die Diskussionen rund um den Klimaschutz das traditionelle Tournee-Geschäft komplett verändern werden. In der Zukunft werden Orchester und Ensembles auswärtig gezielte, nachhaltige Residenzen durchführen, so auch die Münchner Philharmoniker.
Mit dem fluiden Areal in Sendling würde München hier an vorderster Front mitmischen und auch einen Ort für zeitgemäße Residenzen anbieten können. Von dieser Inspiration und dem verstärkten Input von außen würde wiederum die Musikmetropole München sehr profitieren. Wie auch immer: »Es gibt so vielfältige Möglichkeiten, wie das Areal hinterher genutzt werden kann. Darüber mache ich mir keine großen Sorgen«, so Paul Müller. »Das hier hat einen sehr eigenen Charme und wird eine ganz andere, eigene Identität entwickeln. Sie wird sich sehr unterscheiden von den anderen Sälen.«
Damit meint Müller explizit nicht nur die Gasteig-Philharmonie nach der Generalsanierung, sondern auch den geplanten neuen Konzertsaal am Ostbahnhof. Tatsächlich hätte München künftig drei unterschiedliche Säle mit Top-Akustik, betreut von Toyota einerseits und Tateo Nakajima andererseits: zwei weltweit führende Akustik-Designer mit differierenden Ästhetiken. Das wäre für München auch international ein Alleinstellungsmerkmal. »Wir hoffen, dass das alles gebau wird«, betont Müller. »Das verträgt diese Stadt.« ||
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