Zwei Außenseiter erleben in Roland Schimmelpfennigs »Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin« eine abenteuerliche Reise und finden das Glück.
»Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin«: Der Drache will doch nicht frei sein
Bei Hans-Christian Andersen bleibt vom standhaften Zinnsoldaten nur ein kleines Herz aus Zinn übrig. Und von der Papiertänzerin ein verkohlter Stern im Ofen. Roland Schimmelpfennig gönnt den beiden in seiner Bearbeitung des Kunstmärchens nicht nur ein Happy End, sondern der Tänzerin auch eine eigene Geschichte. Vom Fensterbrett hebt der Wind sie in den Himmel, wo ihr eine Wolke nicht wohlgesonnen ist. Eine Elster verschleppt sie in ihr Nest (die Kinder langweilen sich ohne Fernseher), doch sie fällt raus und segelt in die Küche, in der der Zinnsoldat soeben aus dem Bauch des Wels geschnitten wird, wohin der Sturz vom Fensterbrett und eine Reise in einem Papierschiff durch die Kanalisation ihn schließlich geführt hat. Der Junge aber, dem die beiden derangierten Spielzeuge eigentlich geschenkt wurden, will sie nicht. Sie sollen in den Ofen. Da kommt der Papierdrache, den die Tänzerin vorher von seiner Schnur befreit hatte, angeflogen und rettet sie. Doch der Drache will nicht mehr frei sein, will wieder heim, zu seinem Kind. Er nimmt sie mit, und alle drei finden eine Heimat bei dem kleinen Mädchen. Und wenn sie nicht gestorben sind …
Freiheit gegen ein Heim eintauschen? Diese Botschaft hat für Erwachsene etwas recht Befremdliches. Für Kinder zwischen acht und elf Jahren, für die diese erste live gespielte Schauburg-Produktion nach dem Corona-Shutdown gedacht ist, mag sie heimeliger Trost sein. Schließlich geht es beim Soldaten und der Tänzerin um Außenseiter, die keiner haben will. Er hat nur ein Bein, das Zinn reichte nicht für mehr. Sie mit ihrem Papierschloss gilt den anderen Spielsachen als abgehoben. Der Junge will nicht mehr mit ihnen spielen, also werden sie auf die Fensterbank abgeschoben. Da verliebt sich der Soldatin die Tänzerin, weil er denkt, sie hätte auch nur ein Bein. Auf ihren jeweiligen unfreiwilligen Roadtrips erfahren sie nicht gerade viel Solidarität. Da sehnt man sich vielleicht nach einem Zuhause.
Andrea Gronemeyer inszeniert die Homecoming-Story in der Schauburg um eine Art überdimensionale Trommel mit fünf Klappen herum (Ausstattung: Mareile Krettek). Da rennen der Soldat und die Tänzerin erst mal stammelnd gegen unsichtbare Hindernisse. Michael Schröder und Nele Sommer schlüpfen aber auch in andere Figuren, betätigen sich als eine Art Puppenspieler ihrer selbst, lassen rote Rattenaugen leuchten, schaukeln auf dem Kopf das Papierschiff mit dem Soldaten, krächzen mit den tollen Elsterflügelkrallen oder tauchen wie Springteufel aus den verschiedenen Luken auf. Greulix Schrank verausgabt sich in dramatischen Momenten mit Verve in Schlagzeugsolos und gibt mit wedelnden Händen einen irgendwie philosophischen Fisch, dessen Grundfrage lautet: Fressen oder nicht Fressen. Das Licht einer Taschenlampe zaubert einen schwebenden Schattenriss der Papiertänzerin in den blauen Wolkenhimmel, der von der runden Trommel in die Höhe schwebt. Mit wenigen tollen Requisiten schaffen Sommer, Schröder und Schrank reizende Bilder. Schröder läuft als tumbe Fremdenhasserwolke zu Höchstform auf und Sommer amüsiert sehr als maximal genervte Elstermutter. So setzen sie Highlights in die ansonsten eher schlichte Nacherzählung. ||
DER ZINNSOLDAT UND DIE PAPIERTÄNZERIN
Schauburg | wieder im Herbst
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