Juli Zehs »Corpus Delicti« lässt keine Gedankenfreiheit zu.
Ein Corpus Delicti war im 13. Jahrhundert das entscheidende Beweisstück für ein Verbrechen, die Mordaxt zum Beispiel. Heute umfasst der Begriff einen schlüssigen Tatbestand, auch ohne Axt. Die Schriftstellerin Juli Zeh ist Juristin, seit 2018 sogar Verfassungsrichterin in Brandenburg. Ihr Stück »Corpus Delicti« (uraufgeführt 2007) ist untertitelt: Ein Prozess. Den führt eine Diktatur gegen Mia Holl, die als Staatsfeindin verdächtigt wird. In der Schauburg hat die Regisseurin Ulrike Günther trotz guter Schauspieler dem papierenen Thesenstück nur wenig Leben eingehaucht.
Juli Zeh entwirft die Dystopie einer Diktatur der Gleichschaltung, Huxleys »Schöne Neue Welt« lässt deutlich grüßen. Hitler und Stalin schufen solche Regimes, heute ist China ein totalitärer Überwachungsstaat, Türkei und Iran sind auf dem Weg dahin. Gedankenfreiheit ist untersagt in der Gesundheitsdiktatur namens »Methode«: Körpertraining und Komplettrasur sind Pflicht, toxische Substanzen wie Zigaretten oder Wein verboten. Auch lieben darf man nur Menschen aus zugewiesenen Kategorien. Mia Holl (Lucia Schierenbeck) ist eine brave Staatsbürgerin, aber sie kann nicht verwinden, dass ihr abgöttisch geliebter Bruder Moritz sich in der Haft umgebracht hat. Er soll ein Methodenfeind und Mörder gewesen sein. Seitdem verkriecht sich Mia in ihr Matratzenbett, dem einzig warmen Ort auf der sterilen kaltweißen Bühne (Andreas A. Strasser).
Eine Freundin warnt und ermahnt sie, man versteht erst langsam, dass Nele Sommer als Fantasiegestalt Mias gutes Gewissen verkörpert. Mia wird gerichtlich verwarnt: Verkleidet wie eine ägyptische Hohepriesterin (Kostüme: Annika Lohmann) thront die Richterin auf einer Treppe – die arme Julia Schmalbrock kann da nur ein lächerliches Mummenschanz-Zeremoniell ausführen. Janosch Fries als aalglatter Regierungsjournalist, ein Steve Bannon der Methode, und Mias Verteidiger Rosentreter (David Benito Garcia), der sich als ihr Verbündeter entpuppt, dürfen einige Momente außerhalb der Perücken-Klischees zeigen. Gefühlsausbrüche sind Mia vorbehalten: Sie lümmelt mit ihrer Fantasiefreundin herum, singt mit ihr pubertär peinlich zur Klampfe, schreit ihre Verzweiflung und hochpathetisch den Wunsch nach Freiheit heraus. Und rebelliert offen mit der Kampagne »Recht auf Krankheit«. Am Schluss sitzt sie als Märtyrerin mitten in den Vitrinen, in denen eingefrorene Menschen stehen. Einfrieren ist die Todesstrafe, eine Vitrine ist leer für Mia.
Juli Zeh geht es um die Handlungs- und Gedankenfreiheit des Einzelnen in einer Diktatur – viel Diskussionsstoff für Jugendliche ab 15. Leider thesenhaft trocken formuliert. Regisseurin Ulrike Günther hat keine Bilder dafür gefunden, beschränkt sich auf Formalismus. Eine aseptische Bühne, Klischeefiguren – da bleibt das gut gemeinte Stück weitgehend Papier. ||
CORPUS DELICTI
Schauburg |7., 10. Februar| 10 Uhr
7., 8., 10. Feb.| 19 Uhr | Tickets 089 23337155
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