Murnau erinnert an Emanuel von Seidl.
Zur Ehrenrettung Emanuel von Seidls und weil sich sein Tod in diesem Jahr zum 100. Mal jährt, wurde endlich damit begonnen, sein Werk zu erforschen. Mehr und mehr stellt sich nämlich heraus, dass der Bruder des München prägenden Gabriel von Seidl bisher deutlich unterschätzt worden ist. Als Doktorandin hat die Murnauer Wissenschaftlerin Katharina Drexler sich da rangemacht, das Schaffen des Architekten aus der Versenkung hervorzuholen. Der Titel ihrer Eröffnungsrede der Ausstellung »Verloren – doch nicht vergessen« im Schlossmuseum Murnau lautet: »Das Geschenk«. Ein Geschenk, das dem Markt Murnau von Seidl dargebracht wurde, und das seine Bewohner ungeöffnet vor der Tür haben liegen lassen.
Es ist nachgerade so, als hätte jemand hinter ihm aufgeräumt, klagt Drexler, es gibt nichts, keinen Nachlass, nirgendwo. Sie hat sich auf den zähen Weg der Spurensuche begeben und im Laufe der letzten vier Jahre schon einiges aufgedeckt. Ihr Ansatz ist ein weiblicher Blick auf die Dinge. Ein feministischer gar. Wenn bislang immer von drei Söhnen des Bäckermeisters Anton Seidl die Rede war, so förderte sie nun zutage, dass es zehn Kinder waren, die Seidls Frau Maria Theresia zur Welt brachte. Vier verstarben, da waren’s nur noch sechs: Drei Söhne und drei Töchter. Seidls Gattin, die der reichen Bierbrauerdynastie Sedlmayr entstammte, war die eigentlich treibende Kraft, die der Familie Seidl zu Ruhm und Ansehen verhalf. Sie war reich und sie hatte Kontakte in die höhere Gesellschaft. Die älteste Tochter der Seidls, Theresia, lebte schon ab 1891 in Murnau, direkt neben dem heutigen Seidl-Park. Wenn es bisher hieß, Emanuel von Seidl sei erst 1901 nach Murnau gekommen, so dürfte es doch wohl eher so gewesen sein, dass er davor schon etliche Male bei seiner Schwester zu Besuch war, sich in den Ort verguckt hatte und mit dem Grundstück nebenan, dem heutigen Park, liebäugelte. Theresia war inzwischen mit einem Herrn Roeckl, einem Sprössling der gleichnamigen Handschuhmanufaktur, verheiratet und verschwand durch ihren neuen Nachnamen sozusagen aus der Genealogie der Seidls, so wie auch ihre anderen beiden Schwestern und deren Mutter ebenso.
Emanuel von Seidl, der jüngste der Geschwister, geboren 1856, studierte an der TU, arbeitete vorübergehend – speziell als Innenarchitekt – im Büro des acht Jahre älteren Bruders Gabriel, erhielt bald eigene Aufträge und konnte sich ein stattliches Atelier- und Wohnhaus am Bavariaring 10 errichten, das heute noch steht – aber auch hier sind keine Spuren mehr vorhanden. Er wurde 1896 zum Königlichen Professor ernannt und 1906 in den Adelsstand versetzt. Er hatte bereits viele seiner Landhäuser gebaut – die fälschlicherweise meist Villen genannt werden – bevor er sich 1901 auf dem erworbenen Grundstück in Murnau, er nennt es »Gelobtes Land«, sein eigenes Landhaus errichtete. Parallel dazu wuchs der Park im Englischen Stil, heute der Seidlpark – mit zwei Weihern, einer Birkenallee, einem Badehäuschen »Gloriettl« und einem Eiskeller darüber am Hang, und es wurde ein »Freundschaftshügel« aufgeschüttet. Das Haus war ein Gesamtkunstwerk voller Luxus und mit geschmackvollem Interieur – ein Prototyp und Seidls Visitenkarte, mit der er neue Aufträge akquirierte. Es gehörte samt dem Park der Gemeinde, wurde an die Bayerische Versicherungskammer verkauft – und 1972 abgerissen! (Danach musste die Gemeinde, doppelt peinlich, das Geschäft sogar rückabwickeln, weil kein Bebauungsplan für das anvisierte Kurhaus vorlag.) In manch einem Murnauer Vor- oder Rückgärtchen soll man heute noch Relikte finden, die vom Nacht-und-Nebel-Abriss herrühren. Und vom Park ist auch nicht viel geblieben. Wenigstens hat man kürzlich die Sichtachsen wieder hergestellt und das Badehaus und den Eiskeller erneuert.
Der weitaus berühmtere Bruder Gabriel von Seidl hatte es mit seinen repräsentativeren Bauwerken (Lenbachhaus, Künstlerhaus, Bayerisches Nationalmuseum, Rondell am Stachus etc.) bereits zu Ruhm gebracht, während Emanuel in der Öffentlichkeit nur als bester Villen-und Landhausarchitekt Süddeutschlands rangierte. Über 200 hat man ausfindig machen können, etwa ein Drittel (wie das Haus von Richard Strauss in Garmisch) ist noch erhalten. »Es ist das Anliegen der Ausstellung, ihn aus dem Schatten seines Bruders zu holen und vom Nimbus des łLandhaus-im-Heimatstil-Architekten zu befreien. Er hat Regie geführt, er war Manager, hat in München Baugrundstücke gekauft und verkauft«, beschreibt ihn Katharina Drexler. »Er war nicht nur Architekt, er war Unternehmer. Damit erreichte er ein ganz breites Spektrum von Industriellen, von Adligen, die ihn dann auch beauftragten – und er war ein exzellenter Netzwerker. Sein früher Tod mit 63 war vielleicht auch ein Burn-out, würde man heute sagen.«
Seidl gab rauschende Feste in seinem Park, der zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt für die reichen Städter wurde. Stolz zeigt das Museum die Gästebücher von Seidl mit witzigen Sinnsprüchen und Zeichnungen, die die teils prominenten Gäste ihrem Gastgeber hinterliessen. Als nächstes machte Seidl die Verschönerung des Marktes Murnau zu seiner Sache. Über 20 verschiedene Fassadenentwürfe für den Ober- und Untermarkt stammen von ihm und sind bis heute vorhanden. Mit seinen farbenfrohen Designs in hellblau, rosé, rostfarben oder ocker macht er die Marktstraße zu einer bunten Flaniermeile, die nichts oder nur wenig von einer heimattümelnden Fassadenmalerei à la Oberammergau hat. Auch werden seine Nutzbauten stets völlig ausgeblendet: Bahnhöfe, eine Schule, ein projektiertes Krankenhaus. Kuratorin Drexler wagt eine architekturgeschichtliche Einordnung: Warum er nicht so berühmt geworden ist, wie er sein sollte, liegt wohl daran, dass er dem Historismus und dem Heimatstil verhaftet blieb und den Schritt in die Moderne nicht mit vollzogenhat. »Aber wir wollen aufräumen mit dem falschen Bild, er sei ein Jugendstil-Architekt gewesen. Wir haben es hier mit einem Heimatstil zu tun, einzuordnen bei der Reformarchitektur, die den Historismus überwindet.« Vielleicht ist Emanuel von Seidl zu früh verstorben, um sein Können und Potenzial noch in mutigerer, modernerer Weise unter Beweis zu stellen. »Ein gutes Stück Poesie – darin liegt der Schwerpunkt und Prüfstein für den Architekten«, schrieb Seidl in seinem 1910 erschienen Buch »Mein Landhaus«. Nur eines ist seltsam: Münter und Kandinsky, Jawlensky und Werefkin waren zur gleichen Zeit in Murnau. Auch hier gibt es keine Quellen, ob es eine Verbindung zu Seidl, seinen Künstlerfreunden und der Münchner Hautevolee gab. Es sieht fast so aus, als wären die jungen Expressiven auf Seidls Freundschaftshügel nicht willkommen gewesen … ||
»VERLOREN – DOCH NICHT VERGESSEN!« EMANUEL VON SEIDL (1856–1919) ZUM 100. TODESJAHR
Schlossmuseum Murnau| Schloßhof 2–5, 82418 Murnau
5. Dez. bis 1. März| Di–Fr 13–17 Uhr, Sa/So/Fei 10–17 Uhr
Veranstaltungen: 7. Dez., 11 u. 14 Uhr: Auf Glasplatten gebannt. Murnauer Seidlbauten im Bild; 23. Jan., 19 Uhr: Die ehemaligen Büro- und Zeichensäle des Emanuel von Seidl in München, Ort: Bavariaring 10 in München (Eintritt frei); 30. Jan., 19 Uhr: Diskussion mit Eigentümern und Experten über das Wohnen und die Poesie in Seidlhäusern (Eintritt frei); 8. Feb., 11 Uhr: Originale auf Papier – Baupläne E. v. Seidls; Anmeldung jeweils unter: schlossmuseum@murnau.de
Das könnte Sie auch interessieren:
Biennale Venedig: Pavlo Makov, Katharina Fritsch, Malgorzata Mirga-Tas ...
Veit Stoß im Bayerischen Nationalmuseum
Phyllida Barlow: Die Ausstellung im Haus der Kunst
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton