Vor 70 Jahren hat die deutschjüdische Journalistin Jella Lepman die Internationale Jugendbibliothek (IJB) gegründet. Bis heute hat die Idee eines Orts für Weltoffenheit und Integration über Bücher und Lesen nichts an Aktualität verloren. Ein Gespräch mit der Direktorin Christiane Raabe.

Schloss Blutenburg, der Sitz der IJB, gesehen von Mariana Massarani | © Internationale Jugendbibliothek

Am 14. September 1949 wurde die IJB in München eröffnet – was sind die wichtigsten Errungenschaften?
Die IJB hat wesentliche Impulse dafür gegeben, dass die Kinder- und Jugendliteratur (KJL) überhaupt ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt ist. Zwar gab es schon seit dem 17. Jahrhundert Kinderbücher, aber eine moderne internationale KJL, wie wir sie heute kennen, entwickelte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Allein physisch war 1945 praktisch nichts vorhanden. Jella Lepman hat mit Büchern aus 14 Ländern in den Originalsprachen den Grundstock gelegt für eine Sammlung, die heute mit mehr als 640 000 Bänden in über 240 Sprachen die weltweit größte Bibliothek für internationale KJL ist. Außerdem hat sie Verleger in der Nachkriegszeit mit internationaler KJL bekannt gemacht und Übersetzungen angeregt. Viele Kinderbuchverlage wurden ja überhaupt erst in dieser Zeit und später gegründet.

Also ein Ort des Aufbruchs …
… und ein Experimentierraum mit einer Vision: Um nach der Menschheitskatastrophe eine Welt-Friedengemeinschaft aufbauen zu können, sollten Fantasiefähigkeit, Eigenständigkeit, Autonomie und Kritikfähigkeit geweckt werden. Das berühmte Motto: »Gebt uns Bücher, gebt uns Flügel«.

Klingt sehr modern und unverändert notwen­dig.
Ja, das ist es auch. Wir führen in der IJB mit Kinderbüchern einen interkulturellen Dialog. Allerdings sind die Bedingungen heute komplett andere. Damals waren die Kinder lesehungrig. Sie sind in die Bibliothek gekommen und haben sich satt gelesen. Heute haben wir das Problem, dass Kinder und Jugendliche oft keine Lust haben zu lesen.

Was tun Sie dagegen?
Wir bieten Workshops, Ausstellungen, Schreibseminare an, und, ganz wichtig, persönliche Begegnungen und Gespräche mit Autor/innen und Illustrator/innen im Rahmen von Lesungen oder Festivals wie dem White Ravens Festival für internationale KJL, das alle zwei Jahre stattfindet.

Also Literaturvermittlung auf verschiedenen Kanälen, an einem märchenhaften Ort.
… aber keine Leseförderung! Das ist mir wichtig. Wenn Kinder und Jugendliche ins Schloss kommen, sagen wir: Die Schule bleibt draußen. Wir verteilen keine Buchlisten, die hinterher abgearbeitet werden müssen, hier geht es nicht um Stoffvermittlung – es geht um das spielerische, kreative Erleben von Literatur. Und die ist zweckfrei.

Mariana Massarani| © Internationale Jugendbibliothek

Vor 70 Jahren ging es bekennend um Werte – auch die sind ungebrochen aktuell. Jella Lep­man nannte Toleranz, Respekt, Offenheit, Neugierde dem Fremden gegenüber …
Was sie wollte, lässt sich gut in der »Konferenz der Tiere« nachlesen. Den Stoff hatte sie an Erich Kästner herangetragen. Das Buch erschien 1949 und war eine der ersten Friedensparabeln der Kinderliteratur. Damals ging es um die kulturelle und politische Öffnung einer national homogenen, zutiefst verrohten und traumatisierten Gesellschaft. Heute leben wir in einer ethnisch, kulturell und religiös heterogenen Gesellschaft, und die Herausforderung besteht darin, sie vor antidemokratischen Bedrohungen zu schützen.

Es muss also weiterhin an der »Kinderbuch­brücke«, wie Jella Lepman das nannte, gebaut werden?
Die Aufgabe war vor 70 Jahren politisch und ist es heute noch. Heute können Kinder in unserer Bibliothek Bücher in ihren jeweiligen Muttersprachen lesen. Sie lernen Geschichten aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen kennen. Wir setzen uns für kulturelle Vielfalt und einen wertschätzenden interkulturellen Dialog ein. Dabei gilt 2019 wie 1949: Lasst uns bei den Kindern anfangen, denn sie sind die Zukunft.

Jella Lepman ging noch weiter: »Kinder an die Macht« war ihre Devise. Ist ein solches Kindheitsbild überhaupt noch vorstellbar?
Für diejenigen, die nach dem Krieg daran gearbeitet haben, dass dieses Land demokratisch, friedlich und weltoffen wird, waren die Erwachsenen moralisch schuldig. Deshalb sollten die Kinder eine neue Welt aufbauen. Heute bestimmt der Leistungsgedanke den Umgang mit Kindern oft mehr als die Einsicht, dass Kinder Persönlichkeiten sind, die kreative Freiräume der Fantasie und des kindlichen Spiels brauchen, damit sie später kritisch hinterfragend und produktiv Gesellschaft gestalten können.

Jella Lepman war überzeugt davon, dass Lesen dabei unerlässlich ist. Hat die KJL die­sen Auftrag eingelöst?
Im Hinblick auf ihre Geschichte auf jeden Fall. Die erste Blütezeit war in den 60er Jahren, die sozialkritische Wende folgte in den 70er Jahren, und die literarische Blüte liegt in den 90er und den frühen 2000er Jahren. Heute geht das literarische Experiment der Verlage unter dem Druck der Medienkonkurrenz leider deutlich zurück.

Und wie ist es um die kulturelle Vielfalt bestellt?
Es wird oft das übersetzt, was uns inhaltlich wie formal bekannt ist. Übersetzungen aus dem Englischen machen den Löwenanteil auf dem Buchmarkt aus, arabische Kinderliteratur ist, um ein Beispiel zu nennen, nahezu unbekannt. Dabei sollten wir gerade das, was anders, was kulturell fremd ist, Kindern nicht vorenthalten.

Weil die Erfahrung des Fremden wichtig ist?
Wir brauchen sie, um uns als Persönlichkeit besser zu verstehen und um uns weiterzuentwickeln. Das Spannende beim Lesen ist doch, dass du hinaustrittst aus deinem kleinen Leben und schaust: Was machen denn andere? Oder man hält es mit Jella Lepman, die meinte: Literatur soll nicht erziehen, sondern die Möglichkeiten des Denkens und Lebens aufzeigen. ||

JUBILÄUMS-FAMILIENFEST
Schloss Blutenburg| Freitag, 20. Sept.
15 Uhr | 70. Geburtstag der IJB mit Vorführungen, Workshops, Mitmachaktionen und Lesungen

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